Geschwister-Scholl-Preis:"Er musste sprechen"

Garance Le Caisnes Buch "Codename Caesar" über einen syrischen Militärfotografen hat den Geschwister-Scholl-Preis verliehen bekommen. Ihre Dankesrede in Auszügen.

Das Buch "Codename Caesar. Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie" der französischen Journalistin Garance Le Caisne ist am Montag in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden. Es erzählt die Geschichte des syrischen Militärfotografen unter dem Pseudonym "Caesar", der Zehntausende Fotos von gefolterten und ermordeten Gefangenen aus den Kerkern des Assad-Regimes ins Ausland schmuggelte. Wir dokumentieren Le Caisnes Dankesrede in Auszügen. SZ

Von Garance Le Caisne

Hans und Sophie Scholl verkörperten den Willen zum Widerstand gegen das Böse. Heute verkörpert ein Teil des syrischen Volkes diesen Willen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mich seit fünfeinhalb Jahren bis in mein tiefstes Inneres mit Syrien verbunden fühle. Viele Syrer haben mir für dieses Buch gedankt. Noch heute erhalte ich Danksagungen. Und jedes Mal kann ich nicht umhin zu antworten, dass das, was sie mir gegeben haben, viel mehr wiegt. Über Syrien zu berichten, Nachforschungen über die Barbarei des Regimes anzustellen hat mir schwere Stunden und Nächte voller Zweifel beschert. Aber all das war ein Geschenk.

Ein Teil von mir ist in diesem Syrien verloren gegangen, aber an Menschlichkeit habe ich hinzugewonnen. Es waren Syrer, die mir dieses Geschenk gemacht haben.

In zwei Jahren schmuggelte Caesar Zehntausende Fotos von Ermordeten ins Ausland

Gegen Ende der Dreißigerjahre haben hier in München Hans und Sophie Scholl versucht, die Menschen wachzurütteln. Als die Revolution im März 2011 in Syrien begann, wollten Dutzende Zivilisten gegen die Repression durch das System von Baschar al-Assad Zeugnis ablegen. In diesem Land ohne unabhängige Medien, ohne freie Arbeitsmöglichkeiten für ausländische Journalisten, beschlossen sie nach den ersten friedlichen Demonstrationen, Beweise für Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu sammeln. In der Überzeugung, dass die internationale Gemeinschaft tätig werden würde, um die Gewalt zu stoppen.

Die Weltöffentlichkeit blieb untätig, als auf Demonstranten geschossen wurde, als Panzer Plätze besetzten und Dörfer umstellten, die sich nicht unterwerfen wollten. Die Welt blieb untätig, als Raketen und Bomben auf Wohnviertel in den von der bewaffneten Opposition gehaltenen Zonen fielen. Woraufhin sich das Regime stark genug fühlte, mit Chemiewaffen und Fassbomben anzugreifen. Fassbomben. Wissen Sie, was eine Fassbombe ist? Ein mit Sprengstoff, Nägeln und allem möglichen Dreckszeug gefüllter Behälter, den ein Soldat abwirft, indem er ihn mit seinen Händen oder Füßen aus einem Hubschrauber stößt. Sie sind auf der Straße in Aleppo oder anderswo. Sie sehen einen Hubschrauber am Himmel, er nähert sich, verschwindet, kommt zurück und wirft seine tödliche Ladung ab. Ihnen bleibt nichts anderes übrig als wegzurennen, ohne zu wissen, wo die Bombe aufschlagen wird, ohne zu wissen, wo Sie sich verstecken könnten.

Syrer haben Hunderte Zeugenaussagen verletzter Personen zusammengetragen, haben viele Stunden an Videomaterial über gezielte Bombardierungen von Krankenhäusern gefilmt, sie haben UN-Sachverständigen Dokumente zur Verfügung gestellt. Die Welt blieb untätig. Heute werfen russische Flugzeuge Streubomben auf Zivilisten und bewaffnete Rebellen. Endlich regt sich die internationale Öffentlichkeit und spricht von "Kriegsverbrechen", von "Verhandlungen", vom "Internationalem Strafgerichtshof".

All das ist aber nur der sichtbare Teil der Barbarei. Da sind die Schreie derjenigen, die in den Kerkern der Haftzentren des Regimes gefoltert werden. Der Schmerz in den Familien der Verschwundenen.

Caesar wollte ihnen Gehör verschaffen. Ebenso wie jene, die die willkürlichen Verhaftungen und die Zerstörung ganzer Dörfer dokumentierten, sagte Caesar Nein. Nein zur Repression durch das Regime, Nein zur Angst, die der Bevölkerung in mehr als 40 Jahren der Herrschaft durch den Assad-Clan eingeimpft wurde, diese Angst, die ihr Denken narkotisiert und jede einzelne ihrer Handlungen lenkt.

A picture of Syria's President Bashar al-Assad riddled with holes is seen on the facade of the police academy in Aleppo, after it was captured by Free Syrian Army fighters

Ich oder das Chaos, vor diese Wahl stellt Syriens Präsident Baschar al-Assad sein Volk. Bild an der Polizeiakademie in Aleppo.

(Foto: Mahmoud Hassano/Reuters.)

Als Fotografen der Militärpolizei hatten Caesar und sein Team die Aufgabe, Aufnahmen von Tat- und Unfallorten zu machen, sofern Soldaten an den Vorfällen beteiligt waren. Danach mussten sie Berichte für die Militärjustiz schreiben. Als die Revolution beginnt, wird Caesar von seinen Vorgesetzten angewiesen, Leichen erschossener Demonstranten und später die in der Haft verstorbenen Gefangenen zu fotografieren. Gestorben an Folter, Hunger oder mangelnder medizinischer Versorgung.

Wie zuvor bei den Soldaten klebte er nun Fotos von Häftlingen auf Aktendeckel. Eine makabre Dokumentation als Nachweis für die Vorgesetzten, dass die "Arbeit" getan war und den Familien Totenscheine mit dem Vermerk, ihr Angehöriger sei an "Herzstillstand" gestorben, ausgehändigt werden konnten.

Als sich in der Leichenhalle eines Militärkrankenhauses immer mehr tote Körper stapeln, will Caesar desertieren. Aber einer seiner Freunde, der Aktivist Sami, überzeugt ihn zu bleiben, um weiter Beweise für die durch das Regime begangenen Verbrechen zu sammeln. In zwei Jahren, von 2011 bis zu seiner Flucht aus Syrien im Sommer 2013, gelingt es Caesar, Zehntausende Fotos zu kopieren. Darunter 28 000 Aufnahmen von mehr als 6000 Gefangenen. Geschundene, verhungerte, mit Brandmalen übersäte Körper. Namenlos, markiert mit einer dreistelligen, direkt auf die bloße Haut geschriebenen Kennnummer. Bis heute sind diese Bilder der eindeutigste Beweis für die systematische Anwendung von Folter durch das Regime. 2014 gehen die Fotos der Akte Caesar um die Welt und an Regierungen.

Aber die Welt bleibt untätig. Caesar war überzeugt davon, dass das Regime für sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden würde. Seit seiner Flucht aus Syrien lebt er versteckt in Nordeuropa, aus Angst von den Geheimdiensten des Regimes aufgespürt zu werden.

Auf die Frage eines Verlegers, ob ich versuchen wollte, Caesar zu finden, gab es nur eine Antwort. Damals im Frühjahr 2014 war der "Islamische Staat" zum Feindbild Nummer eins avanciert. Der IS nutzte die internationale Untätigkeit, das politische Vakuum in manchen syrischen Regionen, die Desorganisation innerhalb der demokratischen Opposition und rekrutierte Jugendliche zu Hunderten.

Als Kind der Globalisierung hat es der IS schnell verstanden, seine Propaganda über soziale Netzwerke zu verbreiten. Seine Verbrechen sind dort offenkundig. Die Dschihadisten filmen Enthauptungen von Christen und Soldaten des Regimes. Sie rechtfertigen die Versklavung jesidischer Frauen in ihrem Magazin Dabiq. Sie rufen zum Selbstmord bereite Anhänger auf, in Frankreich und Belgien den Tod zu säen.

Demgegenüber spielt Baschar al-Assad den ehrenwerten Staatsführer. Der syrische Präsident beharrt unnachgiebig darauf, dass sein Land seit fünfeinhalb Jahren in den Fängen terroristischer Gruppen sei. Die Medienauftritte des früheren Augenarztes und seiner Ehefrau Asma - der "Wüstenrose", wie die Zeitschrift Vogue sie im März 2011 nannte - vermitteln das Bild eines zivilisierten und bezaubernden Paares. Baschar al-Assad wiederholt: "Ich oder das Chaos." Eine als Alternative verkleidete Mahnung, als ob den Syrern nur die Unterwerfung unter ihn oder den IS zur Wahl stünde. Dabei sei daran erinnert, dass Millionen Syrer einen demokratischen Staat anstreben. Sie unterstützen weder den Präsidenten noch den IS.

Beim Interview sagte er nach den ersten Fragen: "Ist das hier ein Verhör?"

Seit fünfeinhalb Jahren trägt der syrische Staat die Verantwortung für 80 Prozent aller getöteten Zivilisten. Bombardements, Machtmissbrauch, Verschleppung, Chemiewaffenangriffe ... Diese massenhaft begangenen Gräueltaten sowie die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, sie zu unterbinden, nähren den Extremismus. Und lassen das syrische Volk selbst in Vergessenheit geraten.

Caesar zu suchen, ihn vom Sprechen zu überzeugen, war ein Weg, diesem Volk eine Stimme zu geben. Es ging nicht nur darum, ein Buch über einen ehemaligen Militärfotografen zu schreiben. Seine Worte sollten ihren Widerhall in den Worten von Überlebenden der Inhaftierungslager finden. Jener Personen, die der Folter und Entmenschlichung entkommen waren.

Natürlich erforderte es Zeit, Caesars Vertrauen zu gewinnen. Nach einigen Monaten gelang es mir, seinen besten Freund Sami zu treffen, denjenigen, der ihn überzeugt hatte, auf seinem Posten in Damaskus zu bleiben und weiter Fotos zu sammeln. Mehrere Treffen waren nötig, um wirkliches Vertrauen herzustellen. Mein Arabisch war nicht gut genug. Saoussen Ben Cheikh, eine treue Freundin, übernahm die Übersetzung jedes einzelnen der langen Interviews.

Geschwister-Scholl-Preis: Die Französin Garance Le Caisne ist freie Journalistin und schreibt für Le Journal du Dimanche und L'Obs. Seit 1990 berichtet sie über den Nahen Osten. Ihre Suche nach dem syrischen Militärfotografen "Caesar" dauerte Monate.

Die Französin Garance Le Caisne ist freie Journalistin und schreibt für Le Journal du Dimanche und L'Obs. Seit 1990 berichtet sie über den Nahen Osten. Ihre Suche nach dem syrischen Militärfotografen "Caesar" dauerte Monate.

Schließlich hat Sami uns die Tür zu Caesar geöffnet. Er warnte: "Achtung, Caesar hat Angst vor Fragen. Vielleicht hält er sie nicht aus, glaubt sich in einem Verhör. Dann wird er Ihnen nicht mehr antworten." Ich verzichtete also darauf, Fragen vorzubereiten. Ich erinnere mich noch, wie Caesar den Raum betritt, in dem unsere ersten Treffen stattfinden sollten, an den Tisch, um den wir sitzen.

Kaum dass er Platz genommen hat, aus der Defensive heraus, eröffnet er das Gespräch mit einer Frage: "Also los, was wollen Sie wissen?" Ich will vermeiden, allzu direkte Fragen zu stellen und schlage ihm vor, mit dem, was er sagen möchte, zu beginnen. Caesar antwortet: "Nein, stellen Sie Fragen, das ist besser." Ich fühlte einen langen Moment der Leere. Ich hatte keine präzisen Fragen.

Aber dann stelle ich ihm doch eine Frage, eine zweite und dritte. Für jede seiner Antworten fordere ich von ihm noch genauere Angaben, Daten, Namen. Nach einer Weile schaut er mich an und fragt scharf: "Ist das hier ein Verhör, oder was?" Ich dachte schon, ich hätte ihn verloren. Dass alles vorbei wäre. Ich hatte drei Seiten mit Notizen. So gut wie nichts.

Rückblickend glaube ich, dass wir unsicher waren, der eine wie der andere. Vielleicht war er deshalb auch bereit, sich doch wiederzutreffen - mit Saoussen. Wir wussten beide, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dass wir keine Wahl hatten. Für ihn konnte es nicht sein, dass er all diese Fotos umsonst kopiert und sich in Gefahr gebracht hatte. Für mich war es undenkbar, dass er nicht berichten würde. Wochenlang hatte ich Zweifel, aber im Grunde genommen wusste ich, dass dies der einzige Weg war: Er musste sprechen, ich musste ihm zuhören und von der Realität in Syrien berichten.

Ich wusste auch, dass die Nachforschungen mit seinen mir anvertrauten Aussagen nicht beendet sein würden. Treffen mit Überlebenden würden folgen müssen.

Nie hätte ich geglaubt, dass es so schwer sein könnte, diesen Beruf auszuüben. Stundenlang den Stift fest in der Hand zu halten und dem Unaussprechlichen zuzuhören. Das längste Interview dauerte sechs Stunden. Ohne aufzustehen, nur mit ein paar Gläsern Tee.

Wenn Zeugen Ihnen Grauenvolles berichten, ist es nötig - damit Sie nicht selbst vom Horror erfasst werden - sich an Fakten zu halten. Im Konkreten zu bleiben, bei den Einzelheiten, selbst den widerwärtigsten. Schmerz gibt es überall auf der Welt, aber es ging darum, Worte für das Unglück in Syrien zu finden. Damit das gelang, klammerte ich mich an Fakten, wie man sich an einen Rettungsring oder einen Baum klammert, um nicht unterzugehen. Immer weitermachen, immer noch genauere Angaben einfordern.

Es ist einfacher, jemandem zuzuhören, der weint. Tränen machen den Schmerz erträglicher

Paradoxerweise ist es einfacher, jemandem zuzuhören, der weint, als jemandem, der seinen Abstieg in die Hölle tränenlos erzählt, dessen Denken und Fühlen aber, von den Schergen gebrochen, nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. Durch Tränen wird der Schmerz über die Barbarei ein wenig erträglicher.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich noch journalistisch arbeite. Ob ich überhaupt legitimiert bin, dieses Buch zu schreiben. Ob meine Wut nicht von einem Mangel an - in unserem Beruf notwendiger - Distanz herrührt. Aber wie anders handeln? Ich habe es nicht gekonnt.

Nachdem ich den letzten Punkt gesetzt hatte, wusste ich, dass das Buch unvollständig geblieben war. Manche Informationen müssten noch eingehender überprüft, weitere Recherchen angestellt werden. Aber es ist da, dieses Buch, da für die Syrer.

Anwälte setzen bereits in gewisser Weise die Arbeit fort. Sie versuchen in Europa und den USA, von Caesars Fotos ausgehend, Klagen einzureichen. Ende Oktober hat ein Franzose syrischer Herkunft vor französischen Gerichten auf Zwangsverschleppung geklagt. Vor drei Jahren verhafteten die Geheimdienste des Regimes seinen Bruder und seinen Neffen in Damaskus. Nach drei Jahren der Suche, der Telefonate und Mails, um herauszubekommen, was aus ihnen geworden ist, hat dieser Mann seine Angst vor Repressalien überwunden, das Regime öffentlich kritisiert und gefragt, ob sein Bruder Masen und sein Neffe Patrick noch am Leben seien, und wo sie gegebenenfalls festgehalten werden. Die Pariser Staatsanwaltschaft hat vor Kurzem Ermittlungen aufgenommen. Eine bislang einmalige Maßnahme und eine Hoffnung für viele Syrer.

Im Flugblatt II der Weißen Rose ist zu lesen: "Ein jeder will sich von einer solchen Mitschuld freisprechen, ein jeder tut es und schläft dann wieder mit ruhigstem, bestem Gewissen. Aber er kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!" Diese Worte sind immer noch aktuell.

Heute Abend denke ich an die Syrer, die die Seiten meines Buches bevölkern, die der Angst getrotzt und zu sprechen gewagt haben: an Ahmad al-Ris, der die Leichname mit Nummern versehen musste, an Abu al-Laith, dessen Willen im Dunkel einer Zelle gebrochen wurde, an Masin al-Hamada, der sein Leben dem Ziel verschrieben hat, die Verbrechen anzuprangern, an Munir, der das Grauen ertrug, um Zeugnis ablegen zu können, an Wafa und ein T-Shirt, das sie gefunden und einer dreijährigen Mitgefangenen geschenkt hat, an Ahmad, der unter Caesars Fotos eines von seinem Bruder entdeckte. Ich denke an Sakaria und Imran. Ich denke an Imad und Hasan. Ich denke an Sami und Caesar.

Aus dem Französischen von Katrin Scharte-Fischer

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