Geschichtsdebatten:Sie ist wieder da

Die deutsche Frage schien gelöst zu sein, aber spätestens seit der Euro-Krise ist das Land wieder die stärkste Macht auf dem Kontinent: Andreas Rödder blickt in neuer Perspektive auf ein altes europäisches Problem.

Von Gustav Seibt

Deutschland, ein europäisches Problem? Dieses Problem schien gelöst zu sein. Die Zwei-plus-Vier-Verträge von 1990, die Aufnahme auch der DDR-Gebiete in die Europäische Gemeinschaft und die Nato, die abschließende Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die Ausdehnung des liberalen Verfassungsstaats auf ganz Deutschland, all das schien sämtliche deutsche Fragen mehrerer Jahrhunderte zu beantworten.

Die internationale Absicherung der Wiedervereinigung erinnerte an den Westfälischen Frieden von 1648 und an den Deutschen Bund von 1815. Beide deutsche Ordnungen waren international garantiert. Die Wiedervereinigung ratifizierte auch das historisch schwierigste, damals kaum beachtete deutsche Problem: die fehlende Übereinstimmung von Staatsnation und Volk. Durch die Vertreibungen und jahrzehntelangen Abwanderungen aus Osteuropa verschwand seit 1945 das Auslandsdeutschtum fast vollständig. Die Erfahrung mit Hitlers Großdeutschland hatte auch Österreich gegen neue Anschlussgelüste geimpft. Erst 1990 wurde der Begriff "kleindeutsch", der das Bismarck-Reich bezeichnete und der seither für den deutschen Staat weiter galt, endgültig sinnlos, aus Mangel an Alternativen.

Dass Volk und Nation nun zum ersten Mal in der deutschen Geschichte auch territorial zusammenfallen, hätte den weiterspukenden Schwundformen völkischen Denkens, im Staatsbürgerschaftsrecht, aber auch in den unerquicklichen Leitkulturdebatten, den Garaus machen können. Doch hat man es in den angestrengten Jahren der Nachwendezeit versäumt, sich um die Integration der Zuwanderer und um ein neues Einwanderungsrecht zu kümmern. Dafür wurde der Euro konstruiert, der als Krönung der europäischen Einbindung Deutschlands gedacht war.

Anders als heute oft dargestellt, war er nicht der Preis der Wiedervereinigung, sondern, auf französische Initiative, schon in den Achtzigerjahren auf den Weg gebracht worden. Darauf legt Andreas Rödder, der jüngste Chronist des deutschen Problems, besonderes Gewicht. Schon dass Rödders ebenso knappes wie umfassendes Buch nicht bloß als historische Darstellung, sondern als aktueller Debattenbeitrag auftritt, signalisiert, was passiert ist: Die scheinbar allseitig gelöste deutschen Frage ist, jedenfalls in den Augen vieler unserer Nachbarn, wieder da.

Daran ist die Euro-Krise seit 2010 schuld, dann auch die Ankunft der Flüchtlinge von 2015. Auf zwei zentralen Politikfeldern, der Währung und der Migration, ist die Europäische Union schlecht konstruiert, und zwar, so konnte es scheinen, zum deutschen Vorteil. Deutsch ist die in den Maastrichtverträgen fixierte Stabilitätskultur. Deutschen Interessen sollten auch die Dublin-Verträge dienen, die Deutschland mit einem Kranz von Erstaufnahmeländern umgaben. Die europäische Einbindung der Bundesrepublik kann man also von unseren Nachbarn aus gesehen ziemlich asymmetrisch finden.

Von unseren Nachbarn aus gesehen: Das bezeichnet die Besonderheit von Rödders Darstellung, die auf viele klassische Werke von Autoren wie Hellmuth Plessner, Gerhard Ritter, Ludwig Dehio, David Calleo folgt und mit zeitgenössischen, etwa von Hans Kundnani und Herfried Münkler konkurriert. Die meisten dieser Bücher konzentrieren sich auf das Machtungleichgewicht, das mit Bismarcks kleindeutschem, für Europa aber immer noch übergewichtigem Reich ins europäische Staatensystem kam.

Illustrationen für die Literaturbeilage vom ET 9.10.2018

Oben: Pistolengriff für Pinsel, um Ermüdung vorzubeugen, 1998. Links außen: Doppelgriffpinsel, 1983. Links: Pinsel mit Verlängerungsgriff, um Ecken zu streichen, die für Farbroller unerreichbar sind, 1978.

Deutschland wurde 1871 eine moderne Nation und Großmacht, als jüngster der europäischen Staaten: zu groß, um sich einzuordnen, zu klein für eine wirkliche Hegemonie. Europa verlor seinen Puffer in der Mitte, umgekehrt musste dieses Deutschland sich in seiner Mittellage vor Einkreisungen fürchten. Man kann das deutsche Problem seit 1871 als den letzten der drei europäischen Abwehrkämpfe gegen die Vorherrschaft eines einzelnen Landes beschreiben, nach der Abwehr von Spanien und der von Frankreich. Und so kann man auch das in der Währungsunion nicht gebändigte, sondern geradezu institutionalisierte Übergewicht deutscher Wirtschaftskraft nach dem alten Muster eines gestörten Gleichgewichts analysieren. Das tun in Europa derzeit viele.

Rödders Darstellung, das ist ihr wichtigstes Verdienst, verfällt angesichts der wiederkehrenden Varianten dieser Problemlage nicht in Fatalismus. Sie verändert, fast zu diskret, die Prämissen der traditionellen Deutungen. Eine Prämisse ist das, was Rödder ein Nullsummenkonzept von Macht nennt, die Vorstellung, dass, wenn eine Großmacht gewinnt, die anderen Mächte etwas einbüßen. Das aber sei falsch, es beruht auf einem Denken, das Bevölkerungsstärke, Militärmacht, Wirtschaftskraft mechanisch gegeneinander abwägt.

Zweitens zeigt Rödder, dass Eigen- und Fremdwahrnehmungen in Europa immer interagierten, aufeinander bezogen waren. Nation ist nicht nur eine gemeinsame politische Form - der Idee nach die Übereinstimmung von Volk, Staat und Territorium in einer "vorgestellten Gemeinschaft", samt Symbolen und Geschichtsmythen -, Nationen leben auch mit Feinden, Konkurrenten, in Ängsten, in einem System von gelegentlich geschätzten, meist aber gefürchteten Nachbarn. Rödder verlagert das deutsche Problem zu einem großen Teil auf die Ebene dieser miteinander kommunizierenden Wahrnehmungen.

Das Bild Deutschlands schwankt zwischen versponnen musikalischer Gelehrtenkultur und Barbarei

Hier hätte man der Darstellung mehr Ausführlichkeit, mehr Farbe aus den Quellen gewünscht. Die Torschlusspanik etwa, die vor 1914 in Europa herrschte - wann würde das deutsche Bevölkerungswachstum es unbesiegbar machen? Wann würden die Rüstungen von Russen und Franzosen für Deutschland lebensgefährlich? -, war ein tief in den Öffentlichkeiten wirkender Faktor. Man kann die Juli-Krise nicht auf diplomatische Unfälle reduzieren, sie hatte viel mit kollektiven Ängsten zu tun.

Dabei berührt Rödder neuralgische Punkte, gelegentlich im Dissens mit der geschichtswissenschaftlichen Mehrheitsmeinung. So spricht er von "Doppelstandards" bei der Ablehnung deutscher Kolonialpolitik durch die anderen Mächte vor 1914 oder bei der Handhabung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker in den Friedensverträgen von Versailles 1919. Es wurde den Österreichern, die sich Deutschland damals anschließen wollten, verweigert, und damit war das Prinzip eigentlich aufgehoben. So etwas ist kein Nachkarten, weil das daraus resultierende schlechte Gewissen, vor allem auf britischer Seite, stark zur moralischen Schwäche gegenüber Hitler in den Dreißigerjahren beitrug. Wahrnehmungsgeschichte also auf zweiter Stufe.

Die Geschichte der Wahrnehmungen hat Nachwirkungen bis heute. Rödder vergleicht zwei Formulierungen, die kaum jemand nebeneinanderstellen würde: Reichskanzler Bülow erklärte 1897 im Reichstag, "wir" (also das Deutsche Reich) "wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne". Entscheidend sei, so Rödder, wo man den Akzent höre, auf "auch" oder auf "an der Sonne". Die europäischen Öffentlichkeiten hörten Letzteres. Die heutige Äußerung stammt vom früheren Bundespräsidenten Gauck, der 2013 erklärte, "wir" (also die Bundesrepublik) "wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unbedingt unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu unseren Erfahrungen, und wir möchten diese gern vermitteln". Es gibt ein europäisches Gedächtnis, das so etwas nicht als Zurückhaltung, sondern als versteckte Anmaßung entziffert.

Buchcover für die Literaturbeilage vom ET 9.10.2018

Andreas Rödder: Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 Seiten 20,00 Euro.

Einen besonderen Akzent legt Rödder auf die wechselseitigen Opfergeschichten. Allerdings fängt er fürs deutsch-französische Verhältnis damit zu spät an. So verheerend die Wirkung des Kriegs von 1870, der nachfolgenden Kaiserproklamation in Versailles, des finanziell harten Friedens auf Frankreich war, so wenig versteht man diese Vorgänge ohne die kaum abgeschwächte Präsenz der Erinnerungen an die napoleonische Zeit in Deutschland. Der Russlandfeldzug von 1812, die Befreiungskriege, überhaupt die "Franzosenzeit", lagen 1870 erst sechzig Jahre zurück, allerorten lebten noch Veteranen. In dieser Mechanik konnte auch die Eröffnung der Versailler Friedenskonferenz am 18. Januar 1919 auf deutscher Seite als demütigender Affront empfunden werden. Dieser Tag vereinte die Erinnerungen an die Erhebung Preußens zum Königreich 1701 und an die Proklamation des Kaisers 1871 - Daten, die alle im Kopf hatten. Scharf arbeitet Rödder die deutsch-polnischen Grenzprobleme heraus, die Helmut Kohl nur lustlos bereinigte. Dabei berührt er auch uralte Ängste der Polen, die noch durch Willy Brandts Ostpolitik aktiviert wurden, weil hier auf einmal die ewige Möglichkeit einer deutsch-russischen Verständigung zu Lasten Dritter aufscheinen konnte.

Gegen solche tief verwurzelten Erinnerungen - das Bild Deutschlands schwankt zwischen versponnen musikalischer Gelehrtenkultur und enthemmter Barbarei -, hilft nur die Kenntnisnahme des Blicks der anderen, vor allem die Rücksicht auf deren Sicherheitsbedürfnisse. Rödder hat Gesprächspartner aus mehreren europäischen Ländern zu kurzen Interviews in sein Buch eingeladen. Am aufschlussreichsten ist der Part von Adam Krzemiński, der die nie ganz verschwundene Herablassung gegen Polen beklagt, wie sich auch in der nachrangigen Behandlung der Grenzfrage 1990 zeigte.

Dass man die Aufnahme der Flüchtlinge 2015 nicht nur als humanitäre Großtat, sondern auch als "moralischen Imperialismus" sehen konnte, ist geläufig. Rödder, der ein bekennender Konservativer ist, hält sich erfreulich fern vom hysterischen Stakkato, das in dieser Frage von den Merkel-Kritikern angestimmt wird. Seine Ablehnung des Nullsummenkonzepts von Macht lässt ihn auch aktuelle Anforderungen oder Befürchtungen zu einer deutschen Hegemonie, und sei sie noch so "widerwillig", skeptisch sehen.

Helmuth Plessner, dessen Buch "Die verspätete Nation" Rödder erstaunlicherweise nicht nennt, bezeichnete das Bismarck-Reich als "Großmacht ohne Staatsidee". In den westeuropäischen Monarchien waren, so Plessner, die Nationen Resultate der Staatsbildung. In Deutschland gab es längst eine Kulturnation für ein unklar abgegrenztes, weit ausfransendes Volk. Der Nationalstaat Bismarcks war eine reine Machtschöpfung, ohne "werbenden Gedanken". Der beibehaltene Reichsbegriff signalisierte eine Unruhe, die völkischen Großmachtfantasien Vorschub leistete. Aus diesen diskontinuierlichen Verhältnissen zwischen Staat, Volk und Kultur leitete Plessner extreme Schwankungen zwischen enthemmter Machtpolitik einerseits und kultureller Hybris andererseits ab, außerdem ein frei flottierendes völkisches Denken.

Rödder empfiehlt, bei unverkennbarer Skepsis gegen eine immer weitergehende Vertiefung der EU, ein entschiedenes deutsches "Investment" in Europa, vor allem die rücksichtsvolle Behandlung der kleinen Mitglieder. Außerdem hält er auch nach dem Brexit die Einbeziehung Englands in eine Verbindung, die er "Élysée à trois" nennt, einen Élysée-Vertrag mit drei Partnern, Deutschland, Frankreich und England, für wünschenswert. Das klingt fast nach Dreibund und Bismarck-Zeit.

Dabei führt Rödders Buch, wenn man seine Linien vor die Zeit von Bismarcks Reich zurückzieht, darauf, dass dieses ein Ausnahmefall im jahrhundertelangen deutschen Verhältnis zu Europa war und bleiben sollte. Als Nation sind wir saturiert, aber in einem Moment, wo es darauf nicht mehr so sehr ankommt.

Dieses besonnene, gelegentlich zu kurze Buch, muss man vor allem einer von historischem Bewusstsein unbelasteten Querfront von rechts bis links gegen die EU ans Herz legen. Wer die europäische Gemeinschaft zerstören will, öffnet eine Büchse der Pandora. Denn das deutsche Problem als Knotenpunkt der kämpferischen Pluralität Europas wird vorerst nicht definitiv verschwinden. Es war nie weg.

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