Süddeutsche Zeitung

Geschichten und Gedichte:Eine Ratte am Hals

Von Familien erzählen die Geschichten und Gedichte von Bart Moeyaert, von beklemmender Fremdheit, die auch Freiheit meint, und von dem Glück, dazu zu gehören. Doch manches bleibt ungeklärt.

Von Fritz Göttler

Undine, kannst du pfeifen und spielst du Fangen? Und kennst du die Räuber, die in den Wald gegangen? Der eine fing eine Ratte und ließ sie wieder frei. Die Ratte sprang seinem Bruder an den Hals. Der dritte wurde verrückter jedenfalls .

Total verrückt geht es los, das Lied des Betrunkenen, sprunghaft, aber doch seiner ganz eigenen Logik folgend, ohne Scheu vor stolpernden Reimen und Rhythmen, auch bei den drei Räubern hält es sich dann nicht allzu lang auf. Das Lied ist ein besonders wildes Stück in der großen Sammlung kleiner Texte des flämischen Autors Bart Moeyaert, der auf der Frankfurter Buchmesse diesmal das Gastprogramm gestaltet für Flandern & die Niederlande.

Von Familien erzählen diese Geschichten und Gedichte, von Kindern zumal, denen die Familie rätselvoll bleibt, das Verhalten der Eltern und Geschwister, Kinder, die hin und her schwanken zwischen dem Glück der Zugehörigkeit und einem beklemmenden Gefühl der Fremdheit - die auch Freiheit meint. In Momentaufnahmen lernen wir sie kennen, in denen vieles ungesagt bleibt. Manches ist ungeklärt, manches unerklärlich, nicht alle Leerstellen kann man ausfüllen. Moralisch, hat Walter Benjamin über solches Erzählen geschrieben, ist ein Handeln, dessen Maxime verborgen ist.

"Ich wohne in einem Raumschiff" heißt die wunderschöne Impression eines Nachmittags in einem Schankraum, wo die Mutter des Jungen bedient, da hockt auch ein Mann, der Louis Armstrong ähnlich sieht, und die Mutter erinnert an das Mädchen auf den Royal-Tigra-Zigarettenschachteln, und Wolf Erlbruch hat eine Zeichnung dazu geliefert, die magisch die Geschichte weitererzählt. So wie es Rotraut Susanne Berner, André Sollie und andere mit anderen Geschichten tun. Eine davon erzählt von Noor, die mit den Eltern im Warteraum hockt und nach dem Schiff Ausschau hält, mit dem die ältere Schwester aus England zurückkommen soll, Stunden der Unruhe, des Alleinseins: "Schwestern sind überall gleich . . . Man muss immer auf sie warten." Und da ist Harriet, die mit der Mutter im Keller wohnt, diese ist Haushälterin in einem Schloss und sagt am Ende: "Alles kann sich so schnell verändern. Komm, Schatz. Kümmerst du dich um die Obenkatze?" Die Obenkatze gehört der Gräfin, aber die hat das Schloss samt Katze der Mutter anvertraut, sie wird mit dem Grafen das Land verlassen, "Der Sommer von '39" heißt die Geschichte.

Um eine Katze geht es auch am Ende des Lieds des Betrunkenen, die Katze von Tante Let, die besonders schwer malträtiert wird von den Knittelversen: Den ganzen Tag nur dösend schnurren, den ganzen Tag nur träge murren, so geht sie langsam schnurrend tot, seufzt nur noch mal beim Abendrot, hört auf zu atmen wie eh und je und fällt zusammen wie ein Soufflé. Da liegt sie nun, tot, matt und verrenkt, bis Tante Let zu singen anfängt.

Bart Moeyaert: Du und ich und alle anderen Kinder. Erzählungen und Gedichte. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Illustriert von Rotraut Susanne Berner, Gerda Dendooven, Korneel Detailleur, Wolf Erlbruch, André Sollie, Marije Tolman. Hanser 2016. 512 Seiten, 24 Euro.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2016
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