Süddeutsche Zeitung

Geschichte eines Erfolges:Heim auf die Insel

Das einst äußerst erfolgreiche Samoa-Büchlein "Der Papalagi" von Erich Scheurmann bediente die Aussteiger-Träume der 68er-Generation - unter rassistischen Vorzeichen.

Von Thomas Steinfeld

Eines der erfolgreichsten deutschen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts umfasst kaum hundert Seiten. In einem großen Teil seiner vielen Auflagen besteht es aus einem maschinengeschriebenen Text, der auf dickem, grau-gelben Papier in einem billigen Offset-Verfahren gedruckt wurde: Mindestens eine Million Exemplare des "Papalagi" sollen im deutschen Sprachraum verkauft worden sein.

Wer es genauer wissen will, wird in den Kommentaren auch weit höhere Zahlen finden, schließlich aber auf Schwierigkeiten stoßen: Denn viele diese Exemplare wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Raubdrucke verkauft, meist in einer Ausgabe, zu der Hans Peter Duerr, der Freiburger Ethnologe, im Jahr 1973 ein Nachwort mit dem Titel "Unter dem Pflaster liegt der Strand" beigesteuert hatte. "Um uns von Schimären wie Wahrheit, Freiheit, Glück zu befreien, um nasse und salzige Luft zu atmen ,à la plage, endessous (sic!) des pavés', müssen wir das Pflaster abreißen, und das nicht allein zum Bau der Barrikade." Wer wollte unter solchen Umständen mit dem Zählen beginnen?

Der Strand, an dem diese Geschichte beginnt, liegt angeblich auf einem Eiland in der Inselgruppe von Samoa. Dort soll es einen Häuptling namens Tuiavii gegeben haben. Einst habe sich dieser Eingeborene einer Völkerschaugruppe angeschlossen, die durch ganz Europa gereist sei, berichtet ein deutscher Maler und Schriftsteller, der von sich selber sagt, ein Freund des Insulaners gewesen zu sein und in dessen Stamm gelebt zu haben. Auf den Reisen habe der Häuptling das Leben in der vermeintlichen Zivilisation kennengelernt. So widersinnig sei es ihm schließlich vorgekommen, dass er, seiner natürlichen Trägheit zum Trotz, die Einwände gegen den weißen Mann (den "Papalagi") und seine Lebensweise in elf Reden gefasst habe. Sie beginnen mit der Kleidung: "Töricht, blind, ohne Sinn für rechte Freude ist der Weiße, der sich so stark verhüllen muss, um ohne Scham zu sein." Danach geht es zum Geld: "Er ist krank und besessen, weil er seine Seele an das runde Metall und schwere Papier hängt und nie genug haben und nicht aufhören kann." Und beim Geist ist noch lange nicht Schluss: "Der Papalagi beweist uns durch sich selbst, dass das Denken eine schwere Krankheit ist und den Wert eines Menschen um vieles kleiner macht."

Der "Papalagi" wurde vor hundert Jahren geschrieben, irgendwann zwischen dem Herbst 1915 und dem Frühjahr 1920. Publiziert wurde der Text zuerst in einem kleinen Verlag im Schwarzwald, in dem ansonsten hauptsächlich Lehrbücher zur Selbstoptimierung veröffentlicht wurden. Damals hatte das Buch einen Herausgeber, eben jenen Maler und Schriftsteller, der ein Mann von abenteuerlicher Gesinnung und vielen Berufen gewesen sein muss. Erich Scheurmann behauptete von sich selbst, er habe die Reden aus der "primitiven Sprache" der Eingeborenen übersetzt. Im Frühjahr 1914, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, war dieser Schwerenöter mit einem Vorschuss für eine Südseegeschichte in die damalige deutsche Kolonie Samoa gereist und hatte dort ein gutes Jahr gelebt, bevor er, nach einem langen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, wieder nach Deutschland zurückkehrte. Ein bescheidener Erfolg muss der "Papalagi" damals gewesen sein: Von 1920 bis 1923 sind vier Auflagen verzeichnet. Der Verlag war aber so klein, dass man sich darunter kaum mehr als einige zehntausend Exemplare vorstellen darf. Groß und berühmt wurde das Buch erst viel später, in den frühen Siebzigerjahren.

Viele hielten die Geschichte vom Südsee-Häuptling und seinen Weisheiten für authentisch

Viele Leser glaubten die Geschichte vom Südsee-Häuptling und seinen Reden wider die westliche Zivilisation. Der Lyriker und Kritiker Hanns-Hermann Kersten zum Beispiel glaubte sie, als er im Jahr 1978 in der Zeit schrieb: "Die hohe Intelligenz und der kindliche Blick des Häuptlings führten zu Beobachtungen von außerordentlicher Treffsicherheit und sprachlicher Schönheit." Und der Publizist Dieter Bachmann ließ in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung (1979) zwar die Möglichkeit offen: "Wieviel Erich Scheurmann daran gedreht hat, verschweigt er, schamhaft oder ehrfürchtig". Bachmann zweifelte aber keineswegs an der Echtheit des "großen Häuptlings" und seiner Reden, die er für die "romantische Ecke" der Kulturkritik reservierte.

Manche Menschen werden heute noch glauben, es mit einem authentischen Text zu tun zu haben, obwohl Horst Cain, ein Ethnologe vom Berliner Völkerkundemuseum, schon vor vierzig Jahren keine Mühe hatte, zu beweisen, dass die Reden unmöglich von einem Autor stammen konnten, der mehr als nur oberflächlich mit dem Leben auf einer Südseeinsel vertraut gewesen wäre (Horst Cain: Persische Briefe auf samoanisch. Anthropos, Heft 70, 1975). Zu der Zeit, in der die Ansprachen verfasst worden sein sollen, waren die Samoaner schon seit mindestens achtzig Jahren mit Europäern und deren Lebensweise bekannt. Welchen Sinn hätte es gehabt, ihnen deren Kleidung umständlich zu beschreiben? Welchen Grund hätte es gegeben, ein seltsames "vierfüßiges wollenes Tier" vorzustellen, da Schafe auf den Inseln durchaus geläufig waren? Und wer wäre auf die Idee gekommen, das Telefon zu beschreiben als "metallene Fäden, die wie lange Lianen von einer Steininsel zur anderen gehen", da es doch Fernsprecheinrichtungen auch auf Samoa gab? Ganz einfach: Erich Scheurmann hatte die Reden des Häuptlings selber geschrieben, nach Maßgabe der Vorstellungen, die man sich in jener Zeit in Deutschland von einem Leben an von Palmen beschatteten Stränden auf einer Insel in der Südsee machte.

Diese Ideen sind nicht vergangen. Sie leben fort, an jedem Strand, an jedem Gefilde, an dem sich der Tourismus in der Variante des "sun and fun" niederlässt. Denn immer noch verbindet sich die Hoffnung, wenigstens für eine befristete Zeit, nämlich im Urlaub, vom Alltag und seinem Zwang erlöst werden zu können, mit der Gestalt eines zum Ideal erhobenen Rückfalls in eine Naturreligion: Während dieser Wochen will man dahinleben, beschränkt auf die wenigen Dinge, die man tatsächlich braucht, den einfachen Dingen hingegeben, einem Tageslauf folgend, der aus nichts anderem besteht als aus schlafen, essen, spielen und lieben.

Entstanden ist dieser Glaube, das bessere Leben sei in "primitiven" und also ahistorischen Verhältnissen zu suchen, im späten neunzehnten Jahrhundert. Doch obwohl die entsprechenden Versuche in aller Regel tragisch ausgehen, hat es seither nicht an intellektuellen und publizistischen Anstrengungen gefehlt, die Idee vom Verzicht auf alle intellektuellen (und auch sonstigen) Anstrengungen unter die Leute zu bringen.

Noch Herbert Rosendorfer diente diese Zivilisationskritik als erzählerisches Vorbild

So kommt es, dass der "Papalagi" mitsamt seinem kulturellen Relativismus etliche Nachahmer fand. Doch es mangelt ihm auch nicht an Vorläufern. Die "persischen Briefe" des Barons von Montesquieu aus dem Jahr 1721 zählen ebenso dazu wie das Büchlein "Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland", das der Wandervogel Hans Paasche in den Jahren 1912 und 1913 veröffentlichte - das Werk hatte Erich Scheuermann offensichtlich als Modell für seinen "Papalagi" gedient. Und Herbert Rosendorfer ist mit den "Briefen in die chinesische Vergangenheit" (1983), seinem erfolgreichsten Buch, gewiss einer der Nachahmer: Ein Mandarin aus dem zehnten Jahrhundert gerät darin per Zeitreise in das München der frühen Achtziger, um dort etwa das Automobil - den "Dämon ,Zehn Wildschweine'" - zu entdecken. Keines dieser Werke aber wurde je als authentisches Dokument betrachtet, wohingegen viele Leser des "Papalagi" sich zu weigern schienen, die offensichtliche Fiktion als solche zu erkennen - ähnlich, wie es einem großen Publikum schwer fiel, sich von der Verklärung der Südsee zu einem erotischen Paradies in einem Klassiker der Ethnologie, Margaret Meads "The Coming of Age in Samoa" (1928), zu lösen (man wollte daran glauben, in Zeiten der Idealisierung vermeintlich freier Sexualität).

Trotz der NS-Vergangenheit des Autors konnte sich sein Buch in den Lehrplänen halten

Die Verbindung zwischen Ureinwohnern, Freikörperkultur und Zivilisationskritik übt offenbar einen starken Reiz aus, weniger Erich Scheurmanns wegen, der sich als nach wie vor weitgehend erfolgloser Künstler und Schriftsteller durch die Weimarer Republik schlug und sich dem "Dritten Reich" als Denunziant und Blockwart nützlich erwies, als wegen des selbstreflexiven Charakters der Kritik am "weißen Mann": Sie ist offenbar nur dann erfolgreich, wenn der Weiße sie an sich selber übt, sich aber zu diesem Zweck als Südseeinsulaner verkleidet, sich also gleichsam hinter einer Maske verborgen im Spiegel betrachtet. So hartnäckig hält sich der Glaube, es dennoch mit einem echten Vertreter einer fremden Kultur zu tun zu haben, dass der "Papalagi" nach wie vor für den Schulunterricht empfohlen wird: für Lehreinheiten, in denen es um "interkulturelle Bildung" (Berlin), um die "Auseinandersetzung mit dem Fremden" (Bremen) oder um "Zivilisationskritik" (Nordrhein-Westfalen) gehen soll. Im hessischen "Lehrplan Deutsch" (2010) zählt der "Papalagi" zu den "bewährten Lektüren". (Thomas Schwarz: Ozeanische Affekte. Die literarische Modellierung Samoas im kolonialen Diskurs. Talia Verlag, Berlin 2015).

Der "weiße Mann", lehrt der Südseehäuptling, sei ein Teufel: "Bleibe von uns mit deinen Freuden und Lüsten, deinem wilden Raffen nach Reichtum in den Händen oder nach Reichtum in deinem Kopfe, deiner Gier mehr zu sein als dein Bruder, deinem vielen sinnlosen Tun, dem wirren Machen deiner Hände, deinem neugierigen Denken und Wissen, das doch nichts weiß (. . . ) Wir brauchen dies alles nicht und begnügen uns mit den edlen und schönen Freuden." Selbstverständlich ist der Häuptling ein Rassist. Er ist es, weil er die Menschheit streng sortiert, in das eigene und in das andere Volk. Er sucht den Grund für das Verhalten des "Papalagi" in dessen dämonischer Natur, so wie er die Vorzüge des eigenen Volkes darin erkennen will, "noch von keiner Bildung belastet und noch urtümlicher in seinem Fühlen und Schauen" zu sein. Daher ist der "Papalagi" auch ein rassistisches Buch. Dass es zum Unterricht in "interkultureller Bildung" taugen soll, ist offenbar kein Widerspruch. Denn so, wie es ein rassistischer Gedanke ist, das "Fremde" abzulehnen, nur weil es fremd ist, ist es ein rassistischer Gedanke, das "Fremde" aus demselben Grund willkommen zu heißen. Hinter beidem steht die Vorstellung einer völkischen Identität. Und deswegen entpuppt sich das "Fremde" im "Papalagi" schließlich als das Eigene, das es immer schon war.

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SZ vom 07.01.2016
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