Geschichte einer Magersucht:Essen ist schlimmer als sterben

Keine leichte Kost: Wie sieht es aus in der Gedankenwelt eines Mädchens, das sich zu Tode hungert? Die Geschichte von Lena F. ist die Geschichte einer Magersucht.

Julia Büttner

Dies ist kein Buch, das man gerne liest. Im Gegenteil: Es ist ein Bericht, der einen unerbittlich quält, weil er schonungslos aufrichtig ist. Gerade deshalb ist er so enorm wichtig für alle, die verstehen möchten, wie es in der Gedankenwelt eines Mädchens aussieht, das sich zu Tode hungert.

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(Foto: Foto: dpa)

Lena S. ist 24, als sie beginnt, die Geschichte ihrer Krankheit aufzuschreiben. Da ist sie seit sieben Jahren anorexiekrank, magersüchtig. Eine Geschichte, so exemplarisch, dass sich viele Kranke in ihr wiedererkennen werden - und Eltern die Augen öffnen kann über das Leiden ihres Kindes, das sie aus Angst vor der eigenen Verantwortung nicht sehen wollen.

Lena S. wächst auf als überbehütetes, pflegeleichtes Kind. Sie ist gut in der Schule, ehrgeizig, immer bemüht, es allen recht zu machen. Konflikte werden in ihrer Familie unter den Teppich gekehrt. Abgrenzung, der Wunsch nach Individualität, wird von den Eltern als unerwünschtes Verhalten abgelehnt, und Lena fügt sich in die willkürliche Tyrannei ungeschriebener Gesetze: Morgens gibt es Weißbrot mit Marmelade, abends Graubrot mit Käse.

Der erste Teller Milchreis wird mit Kirschen gegessen, der zweite mit Zucker und Zimt. So wird Lena, als sie in die Pubertät kommt, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, jemand Besonderes, Einzigartiges zu sein und sich gleichzeitig, im Bedürfnis nach Harmonie und Liebe, den Ansprüchen der Familie unter zuordnen. Sie beginnt zu hungern.

Letzte Rettung: Krankenstation

Ein Sieg: Endlich hat sie für sich eine Möglichkeit gefunden, den Widerspruch zu überwinden. Ihre Krankheit macht sie zu etwas Besonderem, und trotzdem bleibt sie die leistungsfähige, vorbildhafte Tochter. Sie strebt in ihrem Kampf gegen den eigenen Körper nach "Perfektion" und nach Autonomie. Ein unerreichbares Ziel.

Als sie realisiert, dass ihr Körper tödlich geschwächt ist, hat sie sich, statt in die Unabhängigkeit, in eine ausweglose Situation manövriert: Die Angst zu essen, ist stärker als die Angst zu sterben. "Leben würde Essen bedeuten und wenn ich esse, ist alles aus, die Möglichkeit scheidet von vornherein aus, und so ist da nur Tod, auf allen Seiten." Lena hat Glück: Sie kommt in eine Klinik und überlebt.

Die Frage, die sich jeder Jugendliche in der Pubertät stellt, die eine, entscheidende Frage: Wer bin ich? wird für Magersüchtige zu einer Frage um Leben und Tod. Es ist das große Verdienst dieses Buches, die Krankheit nicht auf ihre Symptome, nicht auf ihre schockierenden Konsequenzen oder auf den Einfluss von Modeerscheinungen zu reduzieren.

Hinter einer Essstörung liegt immer eine tiefgehende Identitätsstörung. Lenas Gedanken kreisen unerbittlich um die Frage: "Wer wäre ich denn noch, wenn ich plötzlich wieder normal äße? Was hätte ich dann noch. Nichts. Nichts Eigenes mehr." Und so macht Lenas Bericht dem Leser auch klar, dass die Magersucht eine Krankheit ist, die in der Regel nicht therapierbar und damit ausgestanden ist, sondern sie begleitet den Erkrankten als latente Gefahr ein Leben lang. (ab 11 Jahre)

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