Süddeutsche Zeitung

Geschichte der Imperien:Sonder-Wegelagerer

Der Weg von der Weltmacht zur Ex-Weltmacht fällt Russland schwer. Der Grund liegt nicht im Westen, sondern in der russischen Vergangenheit.

Von Martin Schulze Wessel

Als vor hundert Jahren die Vielvölkerreiche im östlichen Europa kollabierten, fassten viele Intellektuelle der neuen Nationalstaaten diesen Moment als Erfüllung einer historischen Verheißung auf: Russland, die Habsburgermonarchie, das Osmanische Reich und Preußen-Deutschland galten ihnen als seelenlose Machtapparate, als Völkergefängnisse. Der tschechische Philosoph Tomáš Masaryk brachte diese Sichtweise auf den Punkt, als er 1917 in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, die Programmschrift "Das neue Europa. Der slawische Standpunkt" verfasste. Die wichtigste Aufgabe nach dem Krieg sei die "Rekonstruktion des östlichen Europa auf nationaler Grundlage", schrieb er, denn die Menschheit sei nichts Übernationales, sondern die Organisation einzelner Nationen.

Doch der Kataklysmus der Imperien setzte nicht nur Freude frei. Bald wurden die untergegangen Imperien zum Gegenstand melancholischer Betrachtung. Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" aus dem Jahr 1930 erzählte den Niedergang der Habsburgermonarchie in der schicksalhaften Verbindung zwischen dem Kaiser und einem Leutnant, der aus einer slowenischen Bauernfamilie stammt. Roth beschwor das Imperium als eine Welt für sich, in der die Vielfalt geordnet und die Widersprüche versöhnt waren.

Roths "Radetzkymarsch" war als Roman nicht weniger politisch als Masaryks "Das neue Europa". In der Geschichtsschreibung sind die beiden alternativen Sichtweisen bis heute wirksam. Vorherrschend war allerdings lange Zeit die Masaryksche Interpretation, dass die Nationalstaaten mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Staatsbürgerschaft den Weg in die Moderne bahnten, während die Imperien bereits im 19. Jahrhundert aus der Zeit gefallen waren.

Dagegen sind in den vergangenen Jahrzehnten Stimmen lauter geworden, welche die Leistungen der historischen Vielvölkerreiche würdigen. Sie weisen auf die Modernisierungserfolge der Imperien hin und erkennen ihre überlegene Fähigkeit im Management von Diversität. Speziell für die Diaspora-Nationen im Osten Europas mit ihren Netzwerken waren die Imperien das bessere staatliche Gehäuse als die kleinteiligen, oft xenophoben Nationalstaaten.

Westeuropäische Staaten hatten ein Imperium. Russland war ein Imperium

Seit Russland die Krim annektiert hat, im Donbass Krieg gegen die Ukraine führt und auch im Westen eine kaum verhüllte Einflusspolitik betreibt, stellt sich die Frage nach den Herrschaftsformen des Imperiums nicht nur nostalgisch.

Der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel hat an dieser Stelle die Frage aufgeworfen, weshalb der Abschied vom Imperium den westeuropäischen Nationen vergleichsweise einfach fiel, während Russland offenbar den Verlust imperialer Größe nicht verwunden hat. Osterhammel verweist auf die besondere Dimension des russischen Falls. Russland habe innerhalb kürzester Zeit einen dreifachen internationalen Machtverfall erlebt: als imperiales Zentrum gegenüber dem Baltikum, Weißrussland, der Ukraine und Mittelasien, als Hegemon im Ostblock und als globale nukleare Gleichgewichtsmacht. Dass heute wieder eine hysterisch beschworene "Größe" zum Leitwert der russischen Politik geworden sei, lastet er dem Westen an: "Auffangstrukturen wurden in den entscheidenden Neunzigerjahren nicht geschaffen. Die 'Sieger im Kalten Krieg' feierten sich zu laut."

Die Gegenargumente liegen auf der Hand: Keine andere Großmacht konnte sich nach dem Zerfall ihres Herrschaftsbereichs der fortdauernden Achtung durch andere Mächte so sicher sein wie Russland mit seinem Atomwaffenarsenal und seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Nato hat kooperative Strukturen mit Russland aufgebaut, US-Truppen wurden aus Europa abgezogen.

Gleichzeitig ist Russland - anders etwa als Österreich nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie - eine imperiale Macht geblieben. Ein Drittel der territorialen Einheit der Russischen Föderation sind durch nicht-russische Ethnien bestimmt. Wurde der Herrschaftsanspruch Moskaus in diesen Territorien in Frage gestellt, so entschloss sich das Zentrum in den neunziger Jahren zu einem gewaltsamen Vorgehen, wie die Tschetschenien-Kriege belegen. Gerade die Installierung eines mächtigen Moskauer Satrapen in Grosny belegt das Fortdauern klassischer imperialer divide- et-impera-Herrschaft.

Interessant bleibt jedoch die Frage, weshalb sich Politiker und Öffentlichkeit Russlands im Gegensatz zu den ehemaligen Imperien Westeuropas nicht mit dem Machtverlust ihres Staates abfinden können. Eine Ursache für die hohe Popularität von Wladimir Putins neo-imperialer Politik sind sicher die Erfahrungen des ökonomischen, politischen und sozialen Niedergangs in den Neunzigerjahren.

Fragt man aber nach den langfristigen Ursachen, so hilft ein Blick auf die historische Spezifik. Zweifellos war das Zarenreich mit seiner autokratischen Spitze und seinen seit dem 16. Jahrhundert angesammelten nicht-russisch geprägten Territorien wie dem Kaukasus, dem Baltikum oder Zentralasien ein Imperium. Doch verstellen die Unterscheidungen von Imperium und Nationalstaat im russischen Fall eher den Blick auf die Wirklichkeit, vor allem wenn sie - mit Masaryk oder Roth - als unvereinbare Gegensätze aufgefasst werden. "Imperium" und "Nationalstaat" sind Idealtypen, die zu den historischen Phänomenen mehr oder weniger gut passen.

Anders als die westlichen Kolonialreiche war das imperiale Zentrum in Russland nicht durch Ozeane von den imperialen Peripherien getrennt. Wo das Kernland endete und wo die koloniale Peripherie begann, war nicht einfach zu bestimmen und unterlag dem historischen Wandel. Durch Siedlung und Assimilation der nicht-russischen Ethnien konnte das Kernland in die Peripherien hineinwachsen. Die westeuropäischen Staaten hatten ein Imperium, Russland war ein Imperium.

An diesem Zustand der Verwachsenheit des russischen Kernlands mit seinen kolonialen Peripherien nahmen Vordenker einer russischen Nation wie Jurij Samarin Anstoß, der 1863 forderte: "Wir Russen müssen das werden, was die Franzosen im Französischen Empire sind und die Engländer im Britischen Empire!" Samarin forderte die Herausbildung einer separaten russischen Nation, die als privilegierte Gruppe über ihre kolonialen Besitzungen verfügte.

Das blieb in der Wirklichkeit des Zarenreichs eine Chimäre. Dennoch war die russische Politik in ihren Modernisierungsbemühungen seit den Sechzigerjahren in hohem Maße von nationaler Logik bestimmt. Insbesondere die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874 war mit der Vorstellung verbunden, die Bevölkerung für ein russisches Nationsprojekt zu sozialisieren. Wie in Frankreich sollte die Armee die Schule der Nation werden.

Das russische Nationsprojekt, das innerhalb des russländischen, also: von Russland beherrschten Imperiums betrieben wurde, hatte seine innere Konfliktlinie vor allem in der Beziehung zur Ukraine. Seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts bildete sich hier eine zunächst kleine ukrainische Bewegung, welche die Existenz von zwei Nationen behauptete, in der Sprache der Zeit waren dies die "Großrussen" (Russen) und die "Kleinrussen" (Ukrainer). Der seinerzeit einflussreichste Publizist des Zarenreichs, Michail Katkow, erkannte in dem Grüppchen ukrainischer Intellektueller eine gefährliche Herausforderung: "Es ist ein skandalöser und absurder Sophismus zu behaupten, dass es zwei russische Nationalitäten und zwei russische Sprachen geben könne, so als ob jemals zwei französische Nationalitäten und zwei französische Sprachen existieren könnten!"

Für Katkow war die ukrainische Bewegung eine Spaltung im Körper der Nation, in der die orthodoxen Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen eine Einheit bilden sollten. Der Slawophile Wladimir Lamanskij befürchtete 1861 von der Entfremdung Kiews sogar "die Desintegration der russischen Nation, den Kollaps und die Teilung des russischen Landes." Die Ukraine war eine Herausforderung für die russische Nation und nicht für das Petersburger Imperium.

Etwa zur selben Zeit, als an der westlichen Peripherie des Zarenreichs ein russisches Nationsprojekt vorangetrieben wurde, erwarb die Petersburger Politik in Zentralasien riesige koloniale Besitzungen hinzu. Russland war, je nach Situation und Geografie, ein nationalisierendes oder ein koloniales Imperium. Diese Widersprüche trugen zu seinem Kollaps bei.

Seit den Zaren war Russlands Politik stets nationalistisch und kolonial zugleich

In den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs waren die Russen zur politisch führenden Nation des Reiches geworden und hatten damit die alte Architektur des Imperiums aus den Fugen gebracht. Neben die sozialen Spannungen traten nationale Gegensätze, die nicht mehr nur die westlichen Gouvernements, sondern das gesamte Zarenreich erfassten. Der Konflikt zwischen der Dominanz der russischen Nation und den Ansprüchen der anderen Ethnien wurde zu einem Strukturproblem.

Lenin postulierte in der Revolution eine radikale Lösung: das "Selbstbestimmungsrecht der Völker", also genau die Formel, der sich auch Tomáš Masaryk und Woodrow Wilson bedient hatten. Doch die neuen Machthaber hielten ihr Versprechen nicht. Das Ziel der bolschewistischen Politik blieb ein sozialistischer Einheitsstaat, der die Möglichkeit eines selbstbestimmten Austritts nicht vorsah. Die Sowjetunion erschien als Wiederauferstehung des alten Vielvölkerreichs unter anderen ideologischen Vorzeichen.

Aber es gab auch einen Neuanfang. Die Bolschewiki förderten zunächst aus taktischen Überlegungen die kulturellen Belange der Nationalitäten. Der alte Konflikte zwischen dem hegemonialen russischen Nationalismus und den übrigen Nationen und Ethnien sollte nicht erneut aufleben. So entstand die Sowjetunion 1924 als Bundesstaat, dessen Mitglieder national definiert waren. Die Ukrainer und anderen Nationen hatten nun einen eigenen territorial-administrativen Rahmen, in dem sie ihre Nationsbildung fortsetzen konnten.

Allerdings kehrte die alte Spannung spätestens nach dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zurück. Auf dem Festempfang im Kreml zu Ehren der Oberbefehlshaber der Truppen am 24. Mai 1945 sprach der Georgier Stalin seinen berühmten Trinkspruch "auf das Wohl des russischen Volkes".

Das Zarenreich war ein nationalisierendes und kolonisierendes Imperium zugleich, und dieser Widerspruch wurde von der neuen Ordnung der Sowjetunion eher überdeckt als gelöst. Dies erklärt die Probleme der russischen Politik und Öffentlichkeit heute. Das postsowjetische Russland hat sich ebenso leicht wie die einstigen westeuropäischen Imperien von seinen als kolonial betrachteten Besitzungen etwa in Zentralasien getrennt. Es bleibt für Russland schwierig, die Eigenstaatlichkeit und territoriale Integrität der Ukraine zu akzeptieren. Doch ist dies kein postkoloniales Erbe, sondern ein Problem der nationalen Selbstfindung Russlands.

Martin Schulze Wessel ist Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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SZ vom 17.01.2017
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