Zum Tod von Gertraud Jesserer:Die Halbzarte

Zum Tod von Gertraud Jesserer: Charakterdarstellerin mit "tierhaft-starker Ausstrahlung": Gertraud Jesserer (1943-2021).

Charakterdarstellerin mit "tierhaft-starker Ausstrahlung": Gertraud Jesserer (1943-2021).

(Foto: dpa / Bearbeitung: SZ)

Sie war eine der beliebtesten Schauspielerinnen Österreichs: Gertraud Jesserer ist im Alter von 77 Jahren gestorben - bei einem Wohnungsbrand.

Von Christine Dössel

Am Montag hätte sie ihren 78. Geburtstag gefeiert, aber der sollte Gertraud Jesserer nicht mehr beschieden sein. Am Donnerstagabend kam die beliebte österreichische Schauspielerin bei einem Wohnungsbrand ums Leben. Ihr Sohn Michael Vogel teilte ihren Tod am Freitag der österreichischen Presseagentur APA mit; Fremdverschulden, hieß es, sei auszuschließen. Was für ein Ende! Die Wienerin Gertraud Jesserer, geboren am 13. Dezember 1943, stand in ihrer Heimatstadt seit 60 Jahren auf der Bühne und gehörte zu den Schauspielgrößen Österreichs. Nachdem sie das Max-Reinhardt-Seminar vorzeitig verlassen hatte, debütierte sie 1960 in Molnárs "Liliom" am Theater in der Josefstadt, wo sie bis 1969 zum Ensemble gehörte. Ihr folgendes Engagement bei Ivan Nagel am Deutschen Schauspielhaus Hamburg war nur ein kurzer Ausflug ins Nachbarland. Schon 1973 kam sie zurück und gehörte fortan bis zu ihrer Pensionierung zum Wiener Burgtheater.

An der Burg arbeitete sie mit Regisseuren wie Otto Schenk, Johannes Schaaf, Achim Benning, Alfred Kirchner. Sie spielte die Marianne in Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" und Karoline in "Kasimir und Karoline", war die Marie in Schnitzlers "Ruf des Lebens" und die Polly in der "Dreigroschenoper". Für ihre feinfühlige, facettenreiche Darstellungskunst wurde sie 1974 mit der Kainz-Medaille ausgezeichnet. Noch Jahrzehnte später lobten Wiener Theatergänger ihre Maria in Musils "Die Schwärmer", die sie 1981 in der Regie von Erwin Axer spielte. Ihr an der Seite die nicht weniger gefeierte Erika Pluhar - wie diese war Jesserer eine Zeit lang mit André Heller liiert. Über ihre Jenna in Lars Noréns "Dämonen", 1985 in der Regie von Dieter Giesing, schrieb C. Bernd Sucher in der SZ: "Die Jesserer besitzt eine ungeheure Kraft, eine tierhaft-starke Ausstrahlung."

In Luc Bondys "Tartuffe"-Inszenierung sah sie aus wie Jeanne Moreau - und kommandierte im Rollstuhl alle herum

Das hatte sie neben ihrer zarten Art als Charakterdarstellerin eben auch: etwas kraftvoll Energetisches, manchmal fast Herrisches. Der große Schauspielerregisseur Luc Bondy verstand das aus ihr herauszuholen. Etwa, als er 2013 zu seinem Abschied aus Wien Molières "Tartuffe" inszenierte, mit einem All-Star-Ensemble, angefangen bei Gert Voss als Orgon über Joachim Meyerhoff in der Titelrolle bis hin zur sonst so edlen Edith Clever in der (aufgewerteten) Rolle des Hausmädchens Dorine. Gertraud Jesserer, als Jeanne-Moreau-Verschnitt sehr mondän im Rollstuhl sitzend, war die alte Madame Pernelle: Alle herumkommandierend und zusammenbrüllend gab sie die eigentliche Terroristin und Fundamentalistin im Haus.

Auch wenn sie an anderen Theatern gastierte, am Staatstheater Stuttgart, bei den Salzburger Festspielen oder an ihrer ersten Bühne, dem Josefstädter Theater - wo sie 2010 die verbissene Professorenwitwe in Thomas Bernhards "Heldenplatz" spielte -, war und blieb das Burgtheater ihre künstlerische Heimat. 2018 sah man sie dort noch einmal in dem Geriatrie-Stück, das Luk Perceval nach dem Roman "Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau" von Dimitri Verhulst im Akademietheater inszenierte. Und zuletzt, 2019, in Fiston Mwanza Mujilas Textcollage "Zu der Zeit der Königinmutter".

Ihre Popularität hatte Gertraud Jesserer vor allem aber auch ihren zahlreichen Rollen in Film und Fernsehen zu verdanken. Schon mit 14 Jahren stand sie in Rolf Thieles "Die Halbzarte" vor der Kamera, als jüngere Schwester von Romy Schneider. In den fast 100 Folgen der ORF-Stegreifserie "Familie Leitner" (1958-1967), einer frühen Form der Seifenoper, war sie als Gerda mit von der Partie. Privat war Jesserers Leben von Schicksalsschlägen gezeichnet. Ihr damals von ihr bereits getrennt lebender Mann Peter Vogel beging 1978 Suizid. Ihr Sohn Nikolas starb 1991 während eines Bombenangriffs als Kriegsberichterstatter und Fotograf am Flughafen Ljubljana. Dass sie nun im Alter von 77 Jahren bei einem Brand umkam, ist tragisch.

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