Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks":Die entscheidenden vier Sekunden

Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks": Am 22. Dezember 1939 fuhr am Bahnhof von Genthin ein Zug von Berlin nach Neunkirchen an der Saar auf einen von dort nach Köln auf. Es gab Hunderte Tote und Verletzte.

Am 22. Dezember 1939 fuhr am Bahnhof von Genthin ein Zug von Berlin nach Neunkirchen an der Saar auf einen von dort nach Köln auf. Es gab Hunderte Tote und Verletzte.

(Foto: Mauritius)

Ein jüdisches Liebespaar lebt bereits in Angst, als das bis heute größte Zugunglück im Personenreiseverkehr es 1939 endgültig trennt. Gert Loschütz rekonstruiert dieses Schicksal nur aus den Akten. Und es ergreift einen umso mehr.

Von Hubert Winkels

Gert Loschütz arbeitet leise, langsam, konzentriert. Er konsultiert Akten, forscht nach Dokumenten, liest alte Zeitungsberichte, zitiert aus Dutzenden eigenen Notizbüchern. Und so tut es sein Erzähler Thomas Vandersee. Und wenn ihm keine administrativ beglaubigten Informationen vorliegen, bricht er den Bericht ab, um Überlegungen anzustellen über den möglichen Fortgang der Ereignisse. Er betont die Not des Konjunktivs und macht an ganz anderer Stelle weiter. Das klingt so spröde, wie es ist; auch wenn die verbotene Geliebte des Erzählers, Yps, sich mit ihm über die "Zusammenschrift" beugt. Yps gehört der erste Satz des Romans: "Nicht deine Zeit."

Es geht zunächst um ein Ereignis vom 22.12.1939 im Bahnhof der sachsen-anhaltischen Stadt Genthin (in der Gert Loschütz geboren wurde). Gegen ein Uhr in der Nacht rast ein aus Berlin kommender Personenzug in einen anderen, der eine Dreiviertelstunde vorher auch am dortigen Potsdamer Bahnhof losgefahren war. Es ist das bis heute größte Unglück im deutschen Personenzugverkehr. Knapp 200 Tote wurden damals, kurz nach Beginn des Krieges, registriert. Schätzungen gehen von bis zu 400 Todesopfern und 700 Verletzten aus. Doch wer weiß heute noch vom Zugunglück in Genthin?

Über 120 Seiten, mehr als ein Drittel seines Romans, rekonstruiert der Erzähler die Katastrophe von Minute zu Minute, in der Kernzeit des Zusammenstoßes sekundengenau. "Vier Sekunden" heißt ein Kapitel, das die kleinste Spanne meint, in der das Unglück hätte verhindert werden können. Ganz nüchtern dargelegt einerseits, das Zahlenspiel, aber so manisch wiederholt, dass es die Fassungslosigkeit angesichts des Geschehens spiegelt - die Fassungslosigkeit über den Zufall, der solche Löcher in die Wirklichkeit schlägt, oder über die Wirklichkeit, die aus solchen Löchern besteht, die wir aber nicht sehen wollen.

Die minutiöse Rekonstruktion macht aus dem Inferno eine Dokumentation in Schwarz-Weiß

Man kann sagen, dass der Roman "Besichtigung eines Unglücks" eine neusachliche Meditation über die Kontingenz der Geschichte, des sozialen Lebens, des Seienden überhaupt ist. Solche entlastenden Begriffe vermeidet Loschütz allerdings streng, zugunsten der kruden Tatsachen, des Schmerzes des Realen. Er bleibt genau bis zur sprachlichen Umständlichkeit, und er lässt eine Imagination lieber in Verwischungen auslaufen, als sie künstlich zu stabilisieren. Eine aktenförmige Annäherung an Ursprung und Folgen der intentionslosen Gewalt.

Im Zentrum kracht und knirscht es, schneidet, schreit und spreizt es sich auf: die ineinander verkeilten Züge. Doch ist das nicht wirklich zu hören im Roman. Loschütz macht dieses Schrillste auf seine reduzierte, ja sture Weise tonlos. Die minutiöse Rekonstruktion macht aus einem grellen Inferno eine Dokumentation in Schwarz-Weiß. Gegen das literarische Bild der verkeilten Züge im Roman ist Caspar David Friedrichs von Ferne verwandtes Gemälde "Eismeer" illustre Pop-Art. Die Frage nach der Schönheit des Schrecklichen verbietet sich dank dieser Dämpfung von selbst. Eher könnte man sagen, dass die gefühllose Beredtheit der Akten das Unfassbare ex negativo zugänglich mache. Und doch bleibt auch diese archivgestützte Erzählform eine Kompensation für den Sinnentzug, der den Zufall definiert. Die Kunst, auch die sprödeste, dient der Kontingenzbewältigung.

Drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschah das Unglück von Genthin. Auch der Krieg war ein Akteur, mit seinen neuen Fahrplänen, Verdunkelungen, Militärfahrzeugen, dem gesamten psychosozialen Dispositiv der Zeit. Aber natürlich ist das Zugunglück auch eine ganz unspektakulär eingerichtete Allegorie des Kriegsausbruchs. Loschütz tut nichts für diesen Eindruck, aber man kann ihn nicht nicht haben. Dass die historisch-politischen Bedingungen nicht mit reflektiert werden, liegt am Willen, den schieren Sachverhalt ohne erklärende Einbettung zu destillieren. So wird aus dem Konkretesten unversehens das Abstrakte.

Aus den Archiven setzt er die Verzweiflung des jüdischen Liebespaares zusammen

Nie weiß der Erzähler mehr als die Figuren. Neben den Eisenbahnern und Kriminalisten ragen zwei Personen aus dem Desaster heraus. Ein eleganter Italiener mit ebensolchem Namen - Buonomo - und eine zierliche junge Frau, die gemeinsam am Potsdamer Bahnhof eingestiegen sind. Sie geben eine Weile Rätsel auf. Buonomo wird schließlich unter den Toten des Zugunglücks ausgemacht, Carla, seine Begleiterin, bleibt eine Weile verschwunden. Sie liegt schwer verletzt und unter falschem Namen im Genthiner Krankenhaus.

Der Erzähler, 1939 noch nicht geboren, stößt in seiner Archivarbeit auf eine Liste mit Kleidungsstücken, die jener Carla vom Genthiner Textilkaufhaus Magnus geliefert wurden, in dem seine Mutter Lehrmädchen war. An dieser Stelle verschiebt sich der Fokus des Romans, springt dann plötzlich, und wir landen in einer scheinbar neuen Erzählung, die von dem verfolgten Juden Richard Kuiper und seiner Verlobten Clara handelt. Beide leben in Neuss und Düsseldorf. Er ist als "Volljude" rassistisch markiert, Clara, deren Eltern längst nach London geflohen sind, gilt den Nazis als Halbjüdin. Beide leben in Angst, müssen sich verstellen und verstecken und suchen nach Orten der Begegnung. Richard droht zu verzweifeln, will fliehen, Clara ermutigt ihn, sucht ihn mit Liebesbeteuerungen zu stützen.

Woher wissen wir das so genau, wenn Gert Loschütz seinem Erzählen aus den Akten treu bleibt? Wegen möglicher Schadensansprüche der Unfallopfer sammelt die Reichsbahn alle die Reise betreffenden Daten der Zuginsassen. Clara, auf etwas undurchsichtige Weise mit dem eleganten Buonomo in Berlin unterwegs und andererseits Richard ihrer ewigen Liebe versichernd, überlässt ihre Korrespondenz aus dieser Zeit der Bahn, wo sie der Erzähler Jahrzehnte später abruft. Von dort und aus dem Düsseldorfer Stadtarchiv. So setzt er leise, langsam, unauffällig die Verzweiflung des jüdischen Liebespaares zusammen.

Kommt die Indizienlogik an ihr Ende, wird das Potenzial des Konjunktivs ausgeschöpft

Nutzt Clara den gutherzigen Buonomo vielleicht als Organisator für ein Visum nach Argentinien, dem Wunschland von Richard? Ist sie wegen ihres Liebsten mit dem Zug und in Berlin unterwegs und darf ihm nicht schreiben? Gert Loschütz bleibt strikt bei der Erzählform der externen Fokalisierung. Er weiß immer weniger als seine Figuren, die erst bei gut der Hälfte des Romans ganze Menschen zu werden beginnen, aus den Papieren auferstehen. Ein befreiendes Leseerlebnis, das den Roman gewissermaßen "normalisiert". Dennoch ist es ein dünner Rand, der die Personen hält. Sie sind silhouettenartig ausgeschnitten aus dem Stoff des Nichtwissens. Nur füllen wir sie mit unserer Imagination und unseren Wünschen für sie.

Das ist zusammen mit dem dramaturgisch extrem retardierten Aufbau des Romans, seiner Berichtsförmigkeit und den Übergängen zwischen den diversen Erzählsphären und Kapiteln ein weiterer gewagter Zug des Erzählers. Dort wo kein Dokument mehr hinreicht, greift eine Art Indizienlogik. Kommt auch die an ihr Ende, wird das Potenzial des Konjunktivs ausgeschöpft. Auch dies ein eher negatives Verfahren, bei dem das Wahrscheinliche der Feind der wunschgetragenen Einbildung ist.

Die dritte (von vier) Sphären des Romans besteht in der Jugendgeschichte des Erzählers Thomas Vandersee aus Genthin. Es spricht einiges dafür, dass es seine Mutter Lisa war, die als Lehrmädchen die Kleider für Clara ins Krankenhaus gebracht hat. Nach dem Krieg werden Mutter und Sohn zu DDR-Bürgern, und da sich die Mutter in einen immer nur "Der Begabte" genannten Geiger verliebt hat, folgen sie diesem nach West-Berlin, wo das gesichtslose Musikgenie menschlich völlig versagt.

Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks": Gert Loschütz, 1946 in Genthin geboren, lebt in Berlin. Zuletzt wurde er für seinen Roman "Besichtigung eines Unglücks" mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.

Gert Loschütz, 1946 in Genthin geboren, lebt in Berlin. Zuletzt wurde er für seinen Roman "Besichtigung eines Unglücks" mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.

(Foto: Gerhard Leber/imago)

Es folgt eine hochkomplexe Vatersuche oder besser: unfreiwillige Vaterentdeckung des jungen Thomas, die sich so weit entfernt von den Genthiner und Düsseldorfer Geschichten, dass man nicht mehr sicher ist, noch im selben Roman zu sein. Ist es auch irritierend, so hat es doch Methode. Gert Loschütz inszeniert den Zufall in seinen Geschichten gemäß seiner Wirkung in der Wirklichkeit. Den Teilstücken Kohärenz zu verschaffen, erschiene ihm offenbar verlogen.

Fast verrückt wirken die zwei letzten Übergänge: Thomas' Mutter Lisa hat in einem Notenbuch ein Papier mit dem Namen von Richard Kuipers Düsseldorfer Straße gefunden: Mintrop. Das könnte heißen, dass sie vor vielen Jahrzehnten von der Richard liebenden Carla gebeten worden ist, diesem zu schreiben. Aber warum? Wegen der Auswanderung aus Nazideutschland? Ein Zeichen der Liebe womöglich? Ja, bestimmt! So klein und berührend ist diese Hoffnung, dass es einen an das schwer zu vergessende Ende des Liebesromans "Ein schönes Paar" von Gert Loschütz erinnert. Die seit Jahren getrennt lebenden Eltern des Erzählers schauen darin über die Dächer einer Kleinstadt hinweg jeden Abend zur selben Zeit dahin, wo der jeweils andere steht und ebenfalls schaut.

Zweifel und Überwältigung hören gar nicht mehr auf, wenn der Erzähler ganz am Ende im Archiv des Düsseldorfer Pflegeheims, in dem Clara Jahrzehnte nach ihrer Geschichte mit Richard Kuiper gestorben ist, entdeckt, dass sie schließlich Frau Öttinger geheißen und noch fünfmal geheiratet hat, jedes Mal einen Mann mit dem Vornamen Richard. In "Besichtigung eines Unglücks" strapaziert Gert Loschütz den Zufall in der Unordnung des Leben ziemlich arg für die Ordnung des Romans. Man kann auch sagen, er instrumentalisiert ihn, womit er ihn auf raffinierte Weise auslöscht. Für dieses Kunststück braucht er die dokumentarische Methode. Es ist manchmal irritierend, dann wieder überwältigend schrecklich oder schön. So wie bei den fünf Richards. Dieser symbolische Coup, diese unglaublicher Überdetermination soll aus den Akten sein? Also aus dem Leben?

Ja woher denn sonst? Wir prüfen das nicht nach. Wir schlucken einmal schwer, geben die skeptische Reserviertheit auf und lassen uns verführen vom Versuch, die Welt zugleich "aus den Akten" und "aus dem Zufall" zu bauen.

Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks": Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2021. 334 Seiten, 24 Euro.

Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2021. 334 Seiten, 24 Euro.

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