Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Gernot Böhme:Der Ganzheitliche

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Zum Tod des Philosophen Gernot Böhme, der die Vernunft ergänzte: um das Andere, um Natur, Leib, Fantasie, Begehren, Gefühle.

Von Thomas Meyer

Das "Andere der Vernunft für das Selbstverständnis des Menschen zurückzugewinnen, das war meine Arbeit der letzten 30 Jahre." So beschrieb der Philosoph Gernot Böhme 2012 in der Studie "Ich-Selbst" seine Forschung im Rückblick. Dieses "Andere der Vernunft", das waren nach Böhme "inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle". Tatsächlich lag die Einsicht, dass eine bloß vernunftzentrierte Philosophie sich diesem Anderen gegenüber nur im Modus der Abwertung verhalten könne, noch weit länger zurück. 1972 schrieb Böhme einen Aufsatz über den Kieler Philosophen Hermann Schmitz und dessen Buch über den "Gefühlsraum", das Böhme als eine große "Befreiung" von der Schulphilosophie empfand.

Doch bevor sich der studierte Physiker dem "Anderen der Vernunft" widmen konnte, legte er zwei souveräne Qualifikationsarbeiten vor, die sich wissenschaftsgeschichtlich mit Zeitformen und dem Verhältnis von Zeit und Zahl in der Antike und bei Leibniz sowie Kant beschäftigten. Quasi nebenbei erschien eine Reihe von Studien, die sich mit dem Einfluss der Wissenschaft auf die gesellschaftliche Ordnung beschäftigten und von denen vor allem die Gemeinschaftsarbeit über die Folgen des "wissenschaftlichen Fortschritts" von 1978 heute wieder der Lektüre lohnt. In diesen Jahren prägte sich Böhme beeindruckende Fähigkeit zur Co-Autorschaft aus, die neben zahlreichen Kollegen auch seinen Bruder, den Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, seine 2005 verstorbene Frau, die Gender- und Islamforscherin Farideh Akashe-Böhme, und noch im vergangenen Jahr seine Tochter Rebecca Böhme, eine Neurowissenschaftlerin, einschlossen.

"Erkenntnis ereignet sich dort, wo es jemandem gelingt, die Natur des einzelnen Seienden, in dem, was es ist, mit der Seele zu berühren."

Böhmes Fähigkeit zum Gedankenteilen war Ausdruck des "Anderen der Vernunft", denn in der Nähe, die sich beim Miteinanderreflektieren einstellt, werden Welt, Natur und Ich in eine andere Atmosphäre versetzt.

"Atmosphäre" wurde denn auch der zentrale Begriff, mit dessen Hilfe Böhme in den folgenden Jahrzehnten Natur, Leib, Phantasie, Begehren und Gefühle programmatisch näher zu bestimmen suchte. "Eine Atmosphäre muß man spüren. Das setzt leibliche Anwesenheit voraus, sei es nun, dass man eine Landschaft oder einen Raum aufsuchen muß oder sich der Ausstrahlung eines Kunstwerkes aussetzen. Man spürt die Atmosphäre in seinem Befinden und zwar als eine Tendenz, in eine bestimmte Stimmung zu geraten."

Die Sätze können als Leitmelodie durch einen großen Teil von Böhmes beeindruckendem Werk dienen und zugleich hätte man damit nur einen Teil seiner "Arbeit" ausgeschritten. Denn er legte zudem und dabei stets ganz auf eigene Rechnung gewichtige Bücher zu Kant, zur Wissenschaftsgeschichte oder zum Verlust der Körperlichkeit in der Wohlstandsgesellschaft vor.

Solche komplexen Wechselwirkungen zwischen einer selbständig erschlossen Traditionen und dem sich nur halbbewussten Phänomen namens Mensch verfolgte Böhme in den Traditionen der Architektur, der Ästhetik, der Politik oder der Soziologie, immer neugierig darauf, wie die jeweilige Gegenwart auf das von ihr Geschaffene reagiert. "Erkenntnis ereignet sich dort, wo es jemandem gelingt, die Natur des einzelnen Seienden, in dem, was es ist, mit der Seele zu berühren." Mit diesem Zitat aus dem "Staat" beschloss Böhme im Jahr 2000 sein großes Platon-Buch. Über diese Berührung und der ihr eigenen Atmosphäre dachte Böhme seit 1977 an der TU Darmstadt und vielfach auch im Ausland auf eindrückliche Weise nach.

Am vergangenen Donnerstag ist der bedeutende Philosoph Gernot Böhme kurz nach Vollendung seines 85. Lebensjahres plötzlich verstorben.

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