Zum Tode von Gerlind Reinshagen:Sie arbeitete an einer Ästhetik der Gefühle

Niedersachsenpreis 1999

Sie war in der Bundesrepublik die erste Frau, die fürs Theater schrieb: Gerlind Reinshagen (1926 - 2019).

(Foto: dpa)

Sie war in der Bundesrepublik die erste Frau, die für das Theater schrieb. Am 9. Juni ist Gerlind Reinshagen im Alter von 93 Jahren in Berlin gestorben.

Nachruf von Helmut Böttiger

Die Kritiker waren verblüfft. Als im Jahr 1968 am Frankfurter Theater am Turm das Stück "Doppelkopf" uraufgeführt wurde, stand der Regisseur am Ende mit einer jungen Frau an der Rampe - und es war nicht die Bühnen- oder die Kostümbildnerin, sondern die Autorin. Gerlind Reinshagen war in der Bundesrepublik die erste Frau, die für das Theater schrieb, das sorgte für Aufsehen. Ihr Stück war seiner Zeit um einige Jahre voraus: Es handelte von der zeitgenössischen Arbeitswelt, von den sozialen Konflikten eines Aufsteigers, und das war, zwei Jahre nach der "Publikumsbeschimpfung" Peter Handkes, am selben Ort und mit demselben Regisseur Claus Peymann, ein noch völlig ungewohnter Stoff.

Gerlind Reinshagen hatte allerdings von Anfang an wenig mit einer betont realistischen Sprache zu tun. Als Autorin blieb sie immer am Rand der Diskurse, ihre Position lässt sich als die der Nichtzugehörigkeit beschreiben. Sie kam vom Hörspiel her, es ging um Rhythmus und um Dialoge, und die Gattungen hatten bei ihr fließende Grenzen. Diese Autorin arbeitete an einer Ästhetik der Gefühle, mit einem nervösen Gespür für feinste Regungen wie für große Ausbrüche. Die Nazi-Diktatur und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen war zu Beginn ihr zentrales Thema. An konkreten Figuren, bis zum Roman "Feuer" aus dem Jahr 2006, zeigt sie, wie die Massen der Mitläufer die eigentlichen Säulen der Nazi-Diktatur waren. Dass sie als Autorin mit Kinderbüchern begann, bevor sie diese Perspektive in anderen Genres weiterführte, war in den Fünfzigerjahren ein politisches Statement: "Nur Kinder wissen noch, was Tod ist, Schmerz."

Am 4. Mai 1926 in Königsberg/Ostpreußen geboren, machte Gerlind Reinshagen 1944 in Halberstadt ihr Abitur und wurde Apothekerin. Nach diversen Tätigkeiten studierte sie an der Westberliner Hochschule der Künste und lebte seit 1956 dort als freie Schriftstellerin. Mit "Leben und Tod der Marilyn Monroe", "Himmel und Erde" oder "Eisenherz" hatte sie auch in den Jahren nach "Doppelkopf" auf der Bühne beträchtlichen Erfolg. Ihr zentrales Thema war die Welt der Angestellten, das Lebensgefühl der Wirtschaftswunderjahre, wie es der Lehrling in "Eisenherz" formuliert: "Es läuft, es läuft aber auf absolut nichts zu." Dabei beschreibt sie dieses Milieu mit dem gesamten Arsenal der Emotionalität. Ihre Sprache ist assoziativ, impressionistisch, melancholisch.

In ihrem ersten Roman "Rovinato oder Die Seele des Geschäfts" (1981) fällt etwas Skurril-Märchenhaftes auf, das sich über die normierte Lebens- und Arbeitswelt legt. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist Gerlind Reinshagen im Alter von 93 Jahren in Berlin gestorben.

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