Die Grenzbezirke, die dem neuen Roman des großen australischen Schriftstellers Gerald Murnane den Titel geben, sind erst einmal ganz direkt geografisch zu verstehen. Ein Mann, Mitte 60, ist aus der Hauptstadt, wo er lange lebte, in ein kleines Dorf an der Grenze gezogen, um hier ungestört an dem zu arbeiten, was er seinen "Bericht" nennt. Dieser Bericht beginnt mit der Erklärung, was es bedeutet, seine "Augen zu hüten". Die Erklärung führt zunächst zurück in die Kindheit, in der er seine Schulausbildung in einem Orden geistlicher Brüder erhielt. Die Knaben mussten dort möglichst oft an der Spendung der heiligen Sakramente teilhaben und in einen Gebetszustand hineinfinden, von dem der Berichterstatter nicht so recht wusste, wie er denn richtig zu erreichen wäre.
Er übt das Schauen, ohne hinzusehen, das ungesteuerte Wahrnehmen
"Die Augen hüten" war damals durchaus moralisch gemeint, nämlich sich vor den Sünden und Verführungen der Welt zu hüten, indem man gar nicht erst hinsieht. Der alt gewordene "Berichterstatter" aber hat seinen Glauben längst verloren - und zwar bei der Lektüre der Romane von Thomas Hardy. Für ihn ist das Augenhüten zu einer ästhetischen Operation geworden. Er übt das Schauen ohne hinzusehen, das ungesteuerte Wahrnehmen an den äußeren Grenzen des Sichtfeldes, da wo die Bilder unscharf werden und nur noch aus Farben und Formen bestehen, die zu eigenen Assoziationen herausfordern.
Damit ist nicht nur der Gegenstand dieses Buches - religiöse Erfahrungen und Glaubensverlust - vorgezeichnet, sondern auch die Richtung angegeben, die Murnanes Schreiben antreibt: Von der Moral zur Ästhetik und darüber hinaus in einen Bereich metaphysischer Erkundungen. Licht- und Schattenverhältnissen widmet er allergrößte Aufmerksamkeit. Dabei sind es gerade die Unschärfen, die ihn interessieren. Das gilt auch für die Erinnerungen, die sich einstellen und die eher nebensächliche Dinge bewahren, wie die Farbe von Fenstern oder die Sitzordnung in einer Kirche. Der Berichterstatter versammelt all die unwillkürlich aufleuchtenden Details, die sich aus einem dunklen Grund des Vergessens erheben.
"Grenzbezirke" ereignet sich also in jeder Hinsicht an den Rändern: an den Rändern des Landes, der Wahrnehmung, der Gegenwart, des Bewusstseins, der Seele. "Grenzbezirke", in Australien unter dem Titel "Border Districts" 2017 erschienen, knüpft damit an das abseitige, rätselhafte "Die Ebenen" an, einen frühen Roman Murnanes, der in deutscher Übersetzung von Rainer G. Schmidt vor einem guten Jahr erschienen ist und mit dem man diesen in seiner Heimat gefeierten, bei uns aber immer noch nahezu unbekannten Autor hierzulande überhaupt erst entdecken konnte.
Dass er, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt wird, so randständig bleiben konnte, hat mit seiner eigenen Lebensweise zu tun. Seinen Heimatdistrikt, das australische Victoria, hat der inzwischen knapp 80-Jährige nie verlassen, sich vielmehr auch dort an die Peripherie zurückgezogen. Öffentliche Auftritte lehnt er ab. Am ehesten kann man ihn bei Pferderennen antreffen, einer Leidenschaft, der auch der Berichterstatter der "Grenzbezirke" anhängt.
Was dieser Berichterstatter darüber hinaus von sich preisgibt, ist nicht viel. Aus einer Prägung im Brüderorden, dem Glaubensverlust und dem Rückzug an die Peripherie, wird keine nacherzählbare Biografie, kein bürgerlicher Lebenslauf. Bücher über Themen und Inhalte, über die man reden kann, langweilen ihn. Ihm geht es um "Worte und Sätze, die erwarten, gelesen zu werden". Deshalb vertraut der Berichterstatter seinen Assoziationen auch dann, wenn er sich selber fragt, warum er das "langweilige Zeug" eingefügt habe. Er betrachtet fasziniert das Foto der Autorin einer Biografie über George Gissing, die im Profil, scharf angestrahlt, abgebildet ist, so dass ihr Augapfel zu leuchten scheint. Das erinnert ihn an die bunten Glasmurmeln seiner Kindheit, die er sich so dicht ans Auge hielt, dass sie die Iris berührten. So wie sich die Welt beim Blick durch diesen Glaskörper veränderte, so ist auch die innere Perzeption vorzustellen: Ein Drogenabhängiger berichtete ihm einmal, dass er nach der Einnahme von Halluzinogenen das Gefühl habe, sein Schädel bestehe nicht aus Knochen, sondern aus Glas, sodass die einzelnen Gedanken darin als bunte, wimmelnde Punkte sichtbar wurden.
Aus derlei Gedankenpunkten, Sichtflächen und Farbspielen setzt sich die Prosa Gerald Murnanes zusammen. Es sind verwischte, nie ganz ortsfeste Bilder, die sich so verhalten wie die Atomteilchen nach der Unschärferelation Heisenbergs: Wo sie sich genau aufhalten, lässt sich nicht bestimmen, es gibt nur gewisse Wahrscheinlichkeitsräume, in denen es sinnvoll ist, sie zu erwarten. So ist auch das entstehende Porträt des Berichterstatters nicht das einer konsistenten Person mit klaren Linien, sondern das Abbild eines Bewusstseins, das sich selbst ein Rätsel bleibt.
Dahinter steht die Fiktion eines Autors, dem man beim Schreiben über die Schulter schaut
Von großer Bedeutung sind darin die Spuren des Gelesenen, aber so, dass er sich meist weder an den Titel noch an den Autor erinnert, sondern nur an einen vagen Lesemoment und an eine Szene, die ihm aus welchen Gründen auch immer im Gedächtnis blieb. Aus solchen Momenten fügt sich das Gelesene zu einem eigenen, neuen Buch zusammen, als ob alle Lebenslektüren tatsächlich einem einzigen, großen Buch gefolgt wären. Auch Proust - als Erinnerungsgenauigkeitskünstler wohl der Antipode Murnanes - gehört dazu. Bei ihm erinnert sich der Berichterstatter an eine Stelle, die erklären sollte, warum das Band zwischen Leser und fiktionaler Figur enger ist als irgendein Band zwischen Menschen aus Fleisch und Blut. Nur leider kann er die Abschrift mit dem Zitat nicht mehr finden, so dass ihm auch im Falle Proust nur die ungefähre Erinnerung bleibt.
Der Berichterstatter liest vorwiegend Biografien. Neben George Gissing werden John Clare und Richard Jefferies genannt, Autoren mithin, die selber eher an den Randbezirken des Vergessens angesiedelt sind. Biografien aber sind das Genre, in dem die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wohl am deutlichsten spürbar, weil am problematischsten ist. Auch in diesem Grenzbezirk hält Murnane sich vorzugsweise auf. Sein Berichterstatter ist so unverkennbar mit autobiografischen Elementen ausgestattet, wie er eindeutig eine Romanfigur ist - falls man ihn überhaupt als Figur und nicht nur als eine Schreibfunktion bezeichnen möchte. Er lenkt die Aufmerksamkeit immerzu auf sein Schreiben. Formeln wie "Während ich den vorigen Satz schrieb, fragte ich mich ..." durchziehen den ganzen Text.
Damit wird nur scheinbar die Fiktion zerstört, indem der Schreib- und Denkvorgang des Autors in den Blick gerät. Tatsächlich entsteht dahinter die Fiktion eines schreibenden Autors, dem man beim Schreiben über die Schulter und in den gläsernen Kopf sehen kann.
Das Buch endet mit zwei Versen aus einem Gedicht von Shelley, die der Berichterstatter sein Leben lang kitschig fand, aber trotzdem immer im Gedächtnis behielt. Sie fassen die Sichtweise Murnanes in aller Kürze zusammen: Wie eine Kugel aus vielfarbenem Glas / färbt Leben das weiße Strahlen der Ewigkeit. Also erzählt er von diesem Strahlen am Horizont des Bewusstseins, das alles gelebte Leben enthält, es aber nicht direkt abbildet, sondern als transzendentalen Effekt. Das gelingt Murnane mit seiner kristallklaren Sprache, die Rainer G. Schmidt auch dieses Mal in ein makelloses Deutsch gebracht hat.
Gerald Murnane : Grenzbezirke. Roman. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2018, 232 Seiten, 18 Euro