Gérald Bronner: "Kognitive Apokalypse":Träge Jäger

Gérald Bronner: "Kognitive Apokalypse": Der Blick des neuen Menschen ist nach unten gerichtet: Gérald Bronner ist Professor für Soziologie in Paris.

Der Blick des neuen Menschen ist nach unten gerichtet: Gérald Bronner ist Professor für Soziologie in Paris.

(Foto: Ludovic Marin/AFP)

Die Menschen haben so viel freie Gehirnzeit wie nie. Der Soziologe Gérald Bronner hat untersucht, was sie damit anstellen - und was nicht.

Von Joseph Hanimann

Wer dieses Buch voreilig ins Genre der florierenden Katastrophen- und Untergangsliteratur einordnen möchte, dem entgegnet der Autor auf Seite 139: Er schmunzle schon beim Gedanken, dem Leser seinen Irrtum nachweisen zu können. Denn unter "Apokalypse" verstehe er gemäß der ursprünglichen Wortbedeutung nicht Weltuntergang, sondern eine fundamentale Enthüllung: jene nämlich über die Spezies Mensch und deren wilde kognitive Gefräßigkeit, wie sie unter den Bedingungen eines deregulierten Markts im Datenüberfluss und den sozialen Medien heute zum Vorschein komme.

So leicht sollen der Autor und sein Spiel mit unseren Erwartungen nicht davonkommen. Als Soziologe, Anthropologe und Neurologe zeigt er auf, wie wir uns dank der Gehirnzeit, die durch die digitalen Technologien freigesetzt wurde, auf dem Weg zu ungeahnten Möglichkeiten und Gefahren befinden. Hinter seiner Schilderung unseres Leerlaufs im Datenmeer, in das sich jede Sekunde 29 000 Gigabyte neue Daten ergießen, schimmert stets auch die Hoffnung auf ein Erwachen der Vernunft.

Gegenwärtig nehmen Bildschirme die Hälfte unserer Gehirnzeit in Anspruch

Im Lauf seiner Entwicklung habe der Mensch dank Organisation und Technik erhebliche Teile der Gehirnzeit auch für andere Dinge als das blanke Überleben frei machen können, schreibt Bronner in einem anthropologisch weit ausholenden Rückgriff. Ein erster Schub sei vor 12 000 Jahren schon mit dem Kulturschock im Neolithikum erfolgt. Da das menschliche Hirn kaum mehr als 150 enge Beziehungen mit anderen Personen verwalten könne, sei das die Zeit der gesellschaftlichen Teilung von Arbeit und Zuständigkeiten und somit der Entstehung des Politischen gewesen. Es war der Moment, wo der in seiner Subsistenz von den Zufällen des Tagesablaufs abhängige Jäger begann, die Welt zu organisieren.

In der dadurch frei gewordenen Gehirnzeit sieht der Autor "eine Art Kriegsschatz auf dem Gebiet der Aufmerksamkeit" mit gewichtigen Folgen. Häuserbau, Kunstsinn, Weltdeutung waren möglich geworden. Dieser Prozess hat sich neuerdings um ein Vielfaches beschleunigt. In Frankreich beträgt die neben der Arbeitszeit und den gut elf Stunden für Schlaf, Essen, Körperpflege aufgebrachten physiologischen Zeit verfügbar gewordene Gehirnzeit gegenwärtig fünf Stunden pro Tag. Das sind 35 Minuten mehr als noch 1986. Dagegen nimmt die Schlafzeit rapide ab. Schlief man anfangs des vergangenen Jahrhunderts in unseren Gegenden durchschnittlich noch an die neun Stunden, sind es heute kaum mehr als sieben Stunden pro Nacht. Betroffen sind davon besonders Kinder und Jugendliche. Und damit beginnt das Problem.

Gérald Bronner: "Kognitive Apokalypse": Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. C.H. Beck Verlag, München, 2022. 285 Seiten. 24 Euro.

Gérald Bronner: Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. C.H. Beck Verlag, München, 2022. 285 Seiten. 24 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

Zivilisatorisches Ziel sei es, das enorme Kapital frei gewordener Gehirnzeit - fürs heutige Frankreich laut Bronner insgesamt 1,139 Milliarden Jahre - bei den Nachwachsenden produktiv zu machen. Und wieder greift der Autor weit in die Vergangenheit zurück, um nach den wechselhaften Erfolgen der Schulbildung seit Karl dem Großen unsere gegenwärtige Situation zu charakterisieren. Entscheidendes Novum ist die praktisch konkurrenzlose Anziehungskraft der Bildschirme. Schlafzeit, Totzeit, Traumzeit wird mit dem Suchtmittel der permanenten digitalen Abwechslung verdrängt. Gegenwärtig nehmen die Bildschirme die Hälfte unserer Gehirnzeit in Anspruch. Die geringste Pause im Tagesablauf gilt dem Blick aufs Handy. Langeweile darf nicht sein.

Ein Nebenopfer davon ist die Kaugummi-Industrie. Statt mit Süßigkeiten werden Kleinkinder mit den Movies auf Mamas Handy ruhiggestellt, und auch die Positionierung im Supermarkt direkt vor der Kasse funktioniert nicht mehr, weil da keiner mehr hinsieht. In der U-Bahn sind die attraktiven Werbeflächen nicht mehr die auf dem Bahnsteig, sondern die in den Gängen der Züge. Der Blick des neuen Menschen ist nach unten gerichtet, was Städte wie Tel Aviv veranlasste, die Verkehrskreuzungen für die "Smombies" mit Leuchtbändern am Boden zu markieren. Sex (weltweit ein Drittel der konsumierten Videos), Angstmache um Gesundheit oder Umwelt und kollektive Wut auf alles Mögliche präsentiert der Autor als Hauptköder im Angebot der kognitiven Kakophonie. Als Spezialist für Verschwörungstheorien und populistische Bewegungen kann er diesbezüglich auf gründliche Vorarbeit zurückgreifen.

Ein gefräßiges Wesen mit einer Schwäche für kognitives Fastfood - das ist der Mensch

Die Stärke seines Buchs liegt darin, dass er im Bestreben um wissenschaftliche Sachlichkeit auf Alarmschlagen wie auf cooles Herunterspielen der Probleme verzichtet und uns auch das Argument der Denkfaulen erspart, das Internet an sich sei weder gut noch schlecht, es komme nur auf den rechten Gebrauch an. Entschieden wendet der Autor sich gegen John Perry Barlows Utopie von der totalen Freiheit im Cyberspace und setzt gegen deren naives Menschenbild seine Vision einer "realistischen Anthropologie", die den Menschen so nimmt, wie er ist: ein gefräßiges Wesen mit einer Schwäche für kognitives Fastfood.

Warum aus der Freisetzung menschlicher Gehirnzeit bisher statt einer Zivilisation von Wissen und Weisheit eher eine des Halbwissens, des Fake und der permanenten Ablenkung entstand, lässt sich unterschiedlich erklären. Bronner greift vor allem zwei Erzählungen dazu heraus - und rechnet mit ihnen kritisch ab. Jene des "entfremdeten" Menschen, die in der Folge der Frankfurter Schule von Gramsci, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky hinter allen menschlichen Schwächen das System des Kapitalismus sieht, wirft er eine ideologisch getünchte Unwissenschaftlichkeit vor. Das Narrativ der neopopulistischen Bewegungen wiederum, das gegen alle institutionellen und kognitiven Vermittlungsinstanzen auf ein Gewährenlassen des angeblichen Volkswillens pocht, hat Bronner in seinen früheren Büchern schon eingehend untersucht. Beiden wirft er Geringschätzung der wissenschaftlichen Exaktheit und rationalen Sachlichkeit vor. Damit stößt seine Analyse jedoch an ihre eigenen Grenzen.

Die Verkürzung anthropologischer Forschung auf die Messwerte frei gewordener Gehirnzeit und auf die dutzendweise gelieferten soziologischen, verhaltenspsychologischen, neurologischen Laborexperimente zeugt von einer gewissen szientistischen Einseitigkeit. Der Forderung nach einer Regulierung des kognitiven Markts im Wettbewerb um unsere Aufmerksamkeit stimmt man gerne zu. Wie das in unseren auf individueller Freiheit beruhenden Gesellschaften zu machen ist, bleibt aber offen. Und dass unser Ebenbild, das uns aus den Verzerrungen der kognitiven Apokalypse heute entgegenblickt, uns zur Besinnung bringen könnte wie dereinst der im Wasser gespiegelte und abgemilderte Blick Medusas, ist eine kühne Vermutung.

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