"Vweto II" von Georgia Anne Muldrow:Die Prophetin

Georgia Anne Muldrow

Wo andere Gott, ihrer Mutter und ihren Kumpels danken, verneigt Georgia Anne Muldrow sich vor dem "Wind für seine Freundlichkeit".

(Foto: Mello Music Group)

Ein großes, euphorisches High-Five ans Universum: Das famose neue Album "Vweto II" der amerikanischen Hip-Hop-Produzentin und Sängerin Georgia Anne Muldrow.

Von Jonathan Fischer

Seit gut 15 Jahren, so lange ist sie schon im Musikgeschäft, vertritt Georgia Anne Muldrow ein paar Lieblingsthesen, Sätze die sich womöglich schon ihre Eltern während der Aufbruchstimmung der späten Sechziger zu eigen gemacht haben, und die seit dem Eintritt von Esoterikern wie dem Rapper Kendrick Lamar oder dem Funk-Jazz-Priester Kamasi Washington in die Umlaufbahnen des Pop wieder Konjunktur haben. Erstens: Zuerst mal müssen wir lernen, uns selbst zu lieben. Zweitens: Politische Veränderungen lassen sich nur über persönliche Ehrlichkeit erreichen. Und drittens: Die Kunst ist ein Mittel, um dem Menschen die Entfaltung seiner Potenziale zu ermöglichen.

Ja, selbstverständlich, was könnte Trumps Amerika, was könnte die ganze Welt gerade besser gebrauchen als ein bisschen Introspektion? Nur dass die junge schwarze Frau aus Los Angeles weit davon entfernt ist, jemanden missionieren zu wollen. Selbsterfahrung, okay. Muldrow aber geht es vor allem um ein musikalisches Versprechen. Um das, was in der emotionaleren rechten Gehirnhälfte geschieht, wenn Flow und Bewusstsein aufeinandertreffen.

Offensichtlich fühlt sich Georgia Anne Muldrow dem ursprünglichen, grenzenlosen Geist des Hip-Hop verbunden. Nur: Lassen sich durch Arbeit am Selbst über das seelisches Gleichgewicht hinaus auch die besseren, interessanteren Beats finden? Muldrows neues instrumentales Album "Vweto II" (Mello Music Group) gibt die Antwort. Vweto heißt Schwerkraft, auf Ki-Kongo. Und klingt wie ein einziges euphorisches, avantgardistisches bis afrikanisch-schräges High-Five ans Universum!

Die gern in Batikhemd und Afrolook posierende Hip-Hop-Produzentin muss hier nicht einmal rappen oder singen, um den Kurzschluss zwischen Beckenboden und Hirn zu schaffen. Sie arbeitet mit Synthesizern und Samples, Disharmonien und minimalen Verschiebungen. Grätscht sich selbst immer wieder in den Groove. Und weiß ganz genau, wie man den Free Jazz von Alice Coltrane und den Funk von George Clinton durch den Zukunftsfilter jagt, der tanzend die Grenzen der Musik-Gesetze auslotet: "Es ist besser schreckliche Musik zu machen als Mittelmaß."

Sie jagt Alice Coltranes Free Jazz und George Clintons Funk durch den Zukunftsfilter

In Bezug auf "Vweto II" aber darf man sich zurücklehnen. Fahrig-nervöse Beat-Trümmer, wie sie zuletzt ihr Kollege und Seelenverwandter, der Hip-Hop-Tüftler Flying Lotus auf "Flamagra" produziert hat, gibt es hier nicht. Muldrow liebt den entspannten G-Funk viel zu sehr, die offenen Jeeps und Late-Night-Sessions mit Kopfhörer und Joint.

Mit anderen Worten: Sie lässt sich von fetten Bassläufen schieben, sucht trancehafte Loops wie auf "Almost Trendy". Ein trockener Boom-Bap, umzüngelt von sphärischen Dub-Effekten eröffnet eine gut einstündige Odyssee mit himmlischen Glockenspielen und abschüssigen Bass-Piano-Riffs. Man höre auch den abstrakten Elektro-Boogie von "Bronx Skates". Oder "Mary Lou's Motherboard", der klingt als hätte Muldrow einen Haufen alte Casio-Computerspiele in Sun Ras Umlaufbahnen geschossen. Und dann ist da zwischen all den unheimlich gurgelnden Synthesizern und Science-Fiction-Rülpsern noch die rettende Körperlichkeit, der Funk. Oder "fOnk", wie Muldrow ihre Traumwandlereien zwischen Afrika, Amerika und den Weiten des Weltraums nennt.

Das dazugehörige Album-Cover könnte auch gut ein Cosmic-Jazz-Opus der Siebzigerjahre schmücken: Eine Gestalt mit Blütenkopf hält Afrika in den Armen, Sonne, Mond und Planeten geben die Kulisse für ein paar Trommler und Tänzer, während ein ernstes schwarzes Frauengesicht in die Ferne blickt.

"Ich würde mich gerne bei der Stille bedanken, der Gebärmutter aller Schwingungen"

"Ich würde mich gerne bei der Stille bedanken, der Gebärmutter aller Schwingungen"; wo andere Gott, ihrer Mutter und ihren Kumpels Tribut zollen, verneigt sich Georgia Anne Muldrow vor dem "Wind für seine Freundlichkeit, dem Blues und dem süßen Duft des Regens". Ja, so ist sie. Eine Verfechterin weiblicher Prinzipien, passionierte Mutter und zusammen mit ihrem ständigen Partner, dem Rapper Dudley Perkins alias Declaime, auch privat ein Paar.

Dass spirituelles Kriegertum und musikalische Avantgarde aus dem selben Geist schöpfen, das belegt schon ihre Familiengeschichte. Ihr Vater, der 2007 verstorbene Jazzgitarrist Ronald Muldrow, spielte unter anderem mit Eddie Harris, ihre Mutter Rickie Byars Beckwith begleitete als Sängerin Pharoah Sanders und leitet in Los Angeles den Chor des Agape Spiritual Center, in dem mit Gebet, Meditation und Visionstraining nicht mehr Gott, Allah oder Jachveh sondern einem alles transzendierenden "Spirit" gehuldigt wird. Die restlichen Zutaten ihrer Philosophie sammelte Georgia Anne Muldrow beim Studium an der The New School of Jazz and Contemporary Music in New York. Mit ihren Kommilitonen - dazu gehörten so einflussreiche Figuren wie der Rhythm'n'Blues-Sänger Bilal und Fusion-Jazzer Robert Glasper - diskutierte sie dort nächtelang "über schwarze Emanzipationsbewegungen". Und was der Jazz dazu beitragen könnte.

Im Jahre 2006 veröffentlichte sie ihr Debut: "Olesi - Fragments of an Earth". Eine klanglich ausufernde Melange aus Siebziger-Funk, Jazz und Hip-Hop-Beats, in der Muldrow sowohl sang, sich begleitete und die Beats ausdachte - und die wie ein Meteorit aus völlig anderem Gestein in die Hip-Hop-Landschaft einschlug. "Olesi" verlangte, ebenso wie das gute Dutzend seiner Nachfolger, dem Hörer einiges ab. Muldrow ignoriert gerne traditionelle Songstrukturen. Sie bastelt bis zu 30 Song-Teile und Sound-Fragmente zusammen. Und spielt sich mit ihrer Kritik der "Mc Donalds Freiheit Amerikas", und dem Glauben an Erlösung durch inneren Reichtum selbst für die Maßstäbe des Conscious-Hip-Hop ins Abseits. Vorerst.

Von "Master Teacher" blieb ein trotziger Refrain hängen: "I stay woke!"

Denn als "Musicians' Musician" ist sie bald gefragt, als Musikerin, die vor allem von anderen Musikern verehrt wird. Ein von Muldrow geschriebenes und koproduziertes Duett mit Erykah Badu auf deren Album "New Amerykah Part One (4th World War) " machte 2008 den Anfang. Von "Master Teacher" blieb ein trotziger Refrain im kollektiven Gedächtnis Amerikas hängen: "I stay woke!"

Damals, erklärt Muldrow, sei es als Selbstermahnung gedacht gewesen: Lass dich nicht einlullen! Bleib aufmerksam! Ein Jahrzehnt später ist der Begriff "stay woke" fester Bestandteil des Vokabulars afroamerikanischer Umgangssprache, verwenden ihn Rapper, Jazz-Esoteriker und Umweltschützer wie die Black Lives Matter-Aktivisten. "Woke", das kann inzwischen alles bedeuten von gesellschaftskritisch bis generell progressiv.

Muldrows Musik aber bleibt etwas für Eingeweihte. Und das selbst nach ihrem letzten, fast schon geradlinigem R'n'B-Album "Overload" aus dem Jahr 2018, ihrem Gastspiel auf "Runnin'", einem der Höhepunkte des gefeierten Blood-Orange-Albums "Negro Swan", und musikalischen Treibstoff, den sie regelmäßig Jazz- und Hip-Hop-Kollegen von Dwight Trible über Madlib bis zu Mos Def ("Georgia Ann Muldrow kannst du spüren, sie ist wie Religion") liefert.

Ein Slogan also als bisher größter Mainstream-Erfolg einer Hip-Hop-Produzentin? Georgia Anne Muldrow kann ganz gut damit leben. "Wir schwarzen Menschen", erklärte sie in einem Interview mit dem Popmagazin The Fader, "nehmen die Energie, die Inspiration des Unbekannten als Garn und betätigen uns als Nähnadeln. Dann entlassen wir unser Werk in die Welt - und jeder darf es interpretieren."

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