Süddeutsche Zeitung

George Packers Bestseller "Die Abwicklung":Kitzel des Realen

George Packers kritisches Gesellschaftspanorama der USA ist ein eindrucksvolles Sachbuch. Nur warum wird "Die Abwicklung" reflexhaft zum großen Gegenwartsroman erklärt?

Von Jens-Christian Rabe

Die Zeiten, in denen amerikanische Präsidenten die wichtigsten Schriftsteller zu Botschaftern beriefen, weil man davon ausging, dass niemand sonst den Geist des Landes so gut verstünde und deshalb auch repräsentieren müsse - diese Zeiten sind lange vorbei. Sehr lange sogar, glaubt man dem berühmten amerikanischen Kritiker und Literaturwissenschaftler Lionel Trilling, der den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Literatur schon Ende der Vierzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts beklagte.

Der Anspruch großer Teile des übrigen Publikums und der Kritik allerdings, von den wichtigsten Autoren nicht einfach nur einen sehr guten Roman lesen zu wollen, sondern die ganz große Erzählung der Zeit, den Roman des Jahrhunderts - dieser Anspruch scheint seither nur immer weiter gewachsen zu sein. Nicht nur in den USA.

Beinahe obsessiv wird regelmäßig bedauert, dass dieses oder jenes Buch eben doch wieder nicht das große Buch zu dieser oder jener großen Zeitenwende sei. Wenn es allerdings einmal wieder so weit zu sein scheint, gibt es kein Halten mehr. Womit wir bei "Die Abwicklung" wären, einem der meistgefeierten amerikanischen Bücher des vergangenen Jahres, das nun auch auf Deutsch erscheint.

Der angesehene amerikanische Politikjournalist und Autor des New Yorker George Packer diagnostiziert seinem Land darin eine schwere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise und erkundet deren Hintergründe.

Er tut dies aber nicht im Stil einer klassisch erklärenden, nüchternen politischen Analyse. Vielmehr lässt Packer - mit Hinweis auf John Dos Passos' "U. S. A."- Trilogie, die aus den Büchern "The 42nd Parallel" (1930), "1919" (1932) und "The Big Money" (1936) besteht und als eines des großen Werke des fiktionalen Realismus gilt - wahre Geschichten und Lebensgeschichten für sich sprechen. Er bilanziert die Krise also nicht, er erzählt sie, mit exemplarischen Protagonisten. Und über und vor allen resümierenden Verallgemeinerungen steht der skrupulöse Blick auf die Details.

Sukzessive untergraben

Erzählt werden etwa die Geschichten von Prominenten wie dem Rapper, Hip-Hop-Superstar und Unternehmer Jay-Z, der Talkshow-Fürstin und Milliardärin Oprah Winfrey, dem ehemaligen demokratischen Finanzminister und späteren Direktor des Finanzkonzerns Citigroup Robert Rubin, den republikanischen Politikern Newt Gingrich und Colin Powell, dem Schriftsteller Raymond Carver, dem Silicon-Valley-Investor und Digital-Propheten Peter Thiel oder dem Wal-Mart-Gründer Sam Walton, dessen Familie so viel Geld besitzt, wie die unteren 30 Prozent aller Amerikaner zusammen.

Und meistens geht es nicht besonders schmeichelhaft aus für die Vertreter der Elite, die - daran lassen die Berichte Packers keinen Zweifel - nur allzu oft als maßlose Bösewichte den Verfall des Landes vorangetrieben haben, indem ihr Denken und Handeln einst für die Mittelschicht so wichtige Institutionen wie die Politik, die Börsenaufsicht, die kleinen Kreditanstalten oder die Zeitungen sukzessive untergraben haben.

Liebevoller widmet sich das Buch den schwer gebeutelten Unbekannten, Männern wie dem glücklosen Unternehmer Dean Price aus North Carolina oder dem zornigen Politik-Berater Jeff Connaughton oder Frauen wie der Sozialarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio, die einst in der Stahlindustrie ihr Geld verdiente.

Und selbst wenn einem manche Schlussfolgerungen vielleicht etwas banal und einige Psychologisierungen etwas eilig erscheinen, ist "Die Abwicklung" ein wirklich spannender, sehr unmittelbarer Blick auf die ideologischen Kräfte, die dieses Land antreiben, dessen Politik, Bewusstseinsindustrie und Software-Ideen wiederum den Rest der Welt antreiben. Es ist ein wunderbares journalistisches Sachbuch geworden, ein großes sorgfältiges Reporterbuch, von denen es zu wenige gibt.

Weil das aber vielen als Lob offenbar nicht groß genug zu sein scheint, muss es der "große amerikanische Roman" (Spiegel) schlechthin sein oder die "great american novel des 21. Jahrhunderts" (Zeit). Aber lässt sich das wirklich so leichthin behaupten? Und: Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass ein sehr gutes Sachbuch nicht mehr einfach ein sehr gutes Sachbuch sein darf?

Nichts muss erfunden werden

Das kommt zu einem nicht unwesentlichen Teil auf den Romanbegriff an, den man sich zurechtgelegt hat. Wenn man einen Roman in erster Linie für ein Werk hält, das es zur Aufgabe hat, der Wahrheit seiner Zeit erzählend auf die Spur zu kommen, dann ist "Die Abwicklung" ein Roman, kein Zweifel, es gibt ja sogar Protagonisten.

Wenn man allerdings der Ansicht ist, dass im Rahmen der romanhaften Wahrheitsfindung die Fiktion, die Imagination nicht einfach leichterhand vom Tisch gewischt werden kann, dann wird es schon schwieriger. Aber auch symptomatischer. Mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage, warum offenbar gerade heute der Journalismus literarische Wucht haben soll und die Literatur, die Fiktion "nach einer wahren Geschichte" erzählt sein muss.

Die naheliegende Antwort ist, dass beides ohnehin kaum voneinander zu trennen ist. Im Englischen gibt es in diesem Zusammenhang seit einer Weile den schönen Begriff der "Truthiness", den man vielleicht mit Wahrheitlichkeit übersetzen könnte und der darauf hinweist, wie sehr in der zeitgenössischen Literatur die empfundene, also in einem höheren Sinne erkenntnisstiftende "Wahrheit" einer erfundenen Geschichte davon abhängt, für wie wahrscheinlich man sie halten kann. Aus dieser Perspektive ist es im Grunde nichts als der reine Glücksfall, wenn einmal - wie im Fall der "Abwicklung" - sogar gar nichts mehr erfunden werden muss.

Ohne eine Legierung mit dem Kitzel des Realen ist auch die Fiktion offenbar nicht mehr unter die Leute zu bringen. Man denke nur an die Konjunktur der Doku-Fiction. Tatsächlich kennt jeder das Gefühl erregten Unglaubens, das sich einstellt, wenn man sich von einer unglaublichen Geschichte hat fesseln lassen und danach auch noch erfährt, dass es auch in Wirklichkeit genau so gewesen ist.

George Packer wird noch gebraucht

Was jedoch könnte die etwas weniger offensichtliche oder noch offensichtlichere Antwort sein auf die zwanghafte literarische Nobilitierung des Realen? Womöglich die Zeit, unsere Zeit selbst. Also die Tatsache, dass unter der Bedingung der offensichtlichen politischen (Ohnmacht), technologischen (Überwachung), sozialen (Ungerechtigkeit), ökonomischen (Finanzkrise), ökologischen (Klimawandel) und ideologischen (Alternativlosigkeit) Sackgassen, in die die liberale Massendemokratie sich und die Welt manövriert hat, doch vorerst nicht die besseren Visionen gefragt sind, sondern so viel Gewissheit wie möglich. Gewissheit darüber, was nun ganz genau der Fall ist.

Wenn das einem Autor auch noch handwerklich so virtuos und unterhaltsam gelingt wie George Packer, muss jedes Lob erlaubt sein. Was für ein Glück, dass ihn kein Präsident mehr mit einem Konsulat belohnt. Wir brauchen den Mann bis auf Weiteres auf unserer Seite der Ohnmacht.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2014/mkoh
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