Süddeutsche Zeitung

George Eliots "Middlemarch":Ehen in der Provinz

Am Beispiel eines völlig durchschnittlichen Städtchens in Mittelengland entfaltete George Eliot in "Middlemarch" einen Kosmos des Weltwissens. Der bedeutendste britische Roman in zwei neuen Übersetzungen.

Von Gustav Seibt

Was für ein gewaltiges Buch! Ergreifend sind die Lebensschicksale, die es verwebt, scharfsinnig ist seine Gesellschaftsschilderung, geistreich und witzig die Psychologie, mit der ein Dutzend unterschiedlichste Charaktere aufgeschlossen werden. Dazu kommt ein Aufbau, der Personen und Probleme so spiegelt, dass Anteilnahme nie parteiisch werden kann, dass der Blick des Lesers auf die höhere Ebene epischer Gerechtigkeit gezogen wird, und er beglückt glauben kann, er sei so klug wie die weise Erzählerin.

"Middlemarch", der Tausendseiter von George Eliot, die in Wirklichkeit Mary Ann Evans hieß und die sich den männlichen Namen nur zulegte, um den Start ihrer literarischen Karriere zu erleichtern und nebenbei von einer "wilden Ehe" mit einem anderwärts verheirateten Goethe-Kenner abzulenken, "Middlemarch" darf man neben bekanntere Schwestern stellen, die alle Frauennamen tragen: "Madame Bovary", "Anna Karenina", "Effi Briest". Oder neben das "Bildnis einer Dame" von Henry James.

Das Glück, ein so großartiges Werk der Literatur mit frischen Augen zu entdecken - denn nicht allzu viele deutschsprachige Leser dürften es kennen, für den Rezensenten war es jedenfalls eine Ersterfahrung - beschert uns der 200. Geburtstag der Autorin in diesem November. Zwei Neuausgaben hat er hervorgebracht, beide sehr gut.

Man scheut sich, allzu viel über das Buch zu verraten, denn wann hat man schon das Vergnügen, ein erstrangiges Werk der Weltliteratur zu erkunden, von dem man nicht schon gerüchteweise einige der besten Pointen und Effekte kennt? Die Zeitbeschleunigung am Schluss von Flauberts "Education sentimentale", sie kommt ja weniger überraschend, weniger in die Magengrube fahrend, wenn ihr ein Rumor vorausgeht, bevor der Leser überhaupt das Titelblatt aufgeschlagen hat. Fluch der Halbbildung, murmelt Theodor W. Adorno, sie beschneidet uns die genuinen Erfahrungen.

Diese Gefahr besteht bei "Middlemarch" etwas weniger, allerdings nur außerhalb Englands. Dort wurde das Buch vor ein paar Jahren zum bedeutendsten britischen Roman aller Zeiten gewählt, von einer internationalen Jury, die 82 Köpfe zählte. "Britisch" heißt allerdings, dass Eliots Buch nicht mit dem "Ulysses" des Iren James Joyce oder den großen Amerikanern konkurrieren musste, aber doch mit Laurence Sterne und Dickens, mit Jane Austen und Virginia Woolf. Auf diesem Feld aber siegte sie weit deutlicher als jeder sozialdemokratische Parteivorsitzende. Und natürlich gibt es längst die kleine BBC-Serie, die die Helden und Heldinnen des Romans neu popularisiert hat.

Nicht zu viel verraten also, um den Leserinnen und Leser, die demnächst acht Tage dafür aufwenden möchten, nichts wegzunehmen vom eigenen Entzücken. "Middlemarch" ist der Schauplatz, ein geografisch tief gelegenes mittelständisches Städtchen im mittleren England, ein Durchschnitt der Gesellschaft in der Provinz. Die Handlung - etwas mehr als zwei Jahre - spielt um 1830, vierzig Jahre vor dem Erscheinungsjahr des Werks, das 1872 in vier Bänden fertig vorlag und damals sofort ins Deutsche übersetzt wurde (ausgezeichnet übrigens). Anders als bei den berühmten Schwestern von Flaubert, Tolstoi und Fontane geht es nicht um Ehebruch, wohl aber um scheiternde Ehen.

Ehe, das ist im neunzehnten Jahrhundert so ziemlich das maximale Unglück, das Menschen sich im bürgerlichen Leben bereiten konnten, wenn sie falsch wählten. Denn noch war die Ehe ständisch bestimmt und festgelegt, aber schon längst stand sie unter der Forderung gelingender Liebe. Die Asymmetrie zwischen wählenden Männern und erwählten Frauen wurde zu einem Problem, das zunehmend auch die Männer betraf, deren Macht das häusliche Unheil nicht verhindern konnte. Die Überlegenheit von "Middlemarch" zeigt sich nun schon darin, dass dort zwei Hauptvarianten nebeneinander gezeigt werden. Grob gesagt: Einmal ist der Mann schuld, das andere Mal die Frau.

Einmal verzweifelt ein junges, schwärmerisches Mädchen an der Seite eines alternden, vertrockneten Gelehrten, der sich einem sinnlosen Lebensprojekt unterworfen hat - er möchte einen "Schlüssel aller Mythologien" finden. Das andere Mal treibt eine materiell anspruchsvolle dumme Gans ihren strahlenden Ehemann, einen idealistischen, fortschrittlichen Arzt, in die Verzweiflung. Dass die beiden Hauptgeschichten auf dem kleinen Schauplatz durch allerlei Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen verzwirnt sind, versteht sich fast von selbst. Und die beiden tragenden Säulen stehen sowieso in einem weitläufigen erzählerischen Gebäude, in dem die Honoratioren der Provinz, die Ärzte, Pfarrer, Anwälte, ein Bankier, Ladenbesitzer, Pferdehändler, Gutsverwalter, Lokalpolitiker ihre immer markanten, oft sehr lustigen Auftritte haben.

Der historische Moment ist absichtsvoll gewählt. England stand 1830 vor größeren Reformen, Unruhen störten das Land auf, denn der Landadel beschränkte die Getreideeinfuhr, um seine Ernten teurer verkaufen zu können. Daher wurde auch seine Vormacht im Parlament zum Problem. Es galt die Wählerbasis zu erweitern, durch einen neuen Zensus und den Neuzuschnitt der Wahlkreise, bei denen erstmals auch bevölkerungsreiche Städte zum Zuge kommen sollten. Außerdem stand die politische Gleichberechtigung der Katholiken im Raum, Folge irischer Verwicklungen. Sogar einen Thronwechsel gab es! Wenn es an den beiden Neuausgaben etwas zu kritisieren gibt, dann vor allem, dass beide diesen Hintergrund nicht so recht erläutern - da wären eigene Kapitel in den Nachworten wünschenswert gewesen.

Denn in "Middlemarch" ist das wichtig - ein peeperkornhaft verquasselter Onkel strebt ins Parlament, und für die Kampagne kauft er sich ein Lokalblättchen, das von der vielleicht interessantesten Figur des Romans geleitet wird. Dieser Will Ladislaw hat eine dunkle familiäre Vergangenheit - nicht zu viel verraten, am Ende wird ein Pageturner daraus! -, aber vor allem führt er einen geradezu goetheanischen Bildungsroman vor - Frau Eliot war eine brillante Goethe-Kennerin, über den "Wilhelm Meister" hat sie einen eigenen Essay geschrieben.

Will - der eben nicht zufällig so heißt - nämlich wird vom ziellosen Künstler, dem die Welt nicht antwortet, zu einem politisch bewussten Journalisten und später selbst Parlamentsmitglied: Die Disproportion des Talents mit dem Leben, ein geheimes Hauptthema von "Middlemarch", findet seine Auflösung nicht im Arztberuf (wie bei Goethe und wie sonst in dem Roman), sondern in Politik als Beruf. Eine andere Auflösung übrigens ist die Landreform, die menschenfreundlich modernisierte Bewirtschaftung feudaler Güter.

Schon die ersten Rezensenten von "Middlemarch" bewunderten die fachliche Expertise, die Eliot den Beschäftigungen ihrer Figuren widmete. Medizin, Mythologie und Altphilologie, Landwirtschaft, Kreditwesen, Politik, über all das hat sich die Autorin so kundig gemacht, dass Zeitgenossen sich wunderten, wie das ohne akademische Studien möglich war. Das große dicke Buch ist ein Kosmos des Wissens, und überrascht vermerken wir, dass sich im Scheitern des alternden Gelehrten auch die damalige Überlegenheit der deutschen Wissenschaft erweist: Der "Schlüssel der Mythologien" ist schon in der Anlage überholt, weil er neueste Forschungen aus Deutschland nicht zur Kenntnis nimmt, wie ausgerechnet Will frühzeitig erkennt.

Darum der Hinweis: Das ist ein nicht nur äußerst unterhaltsames, sondern auch ein intellektuell hoch anspruchsvolles Buch. Den schriftstellerischen Takt Eliots lernt man Schritt für Schritt immer tiefer bewundern. An farbiger Anschaulichkeit liefert sie nur das Nötigste, am ausführlichsten bei den gesellschaftlich so aussagekräftigen Garderoben. Einlässlich ist sie dagegen im Psychologischen. Mancher wird im langsamen Drehen und Wenden von seelischen Motiven sogar sein Hauptvergnügen finden. Da werden die Sätze lang, zuweilen absichtsvoll abstrakt. Vor allem aber ist es immer wieder sehr komisch, wenn Eliot den Selbsttäuschungen ihrer Protagonistinnen (generisches Femininum!) auf die Spur kommt. Ein kühler, strenger, wissender Humor wird zur Quelle von unendlichem Spaß.

Glanz der Formulierungen: Missverständnisse auszuräumen, das sei ungefähr so aussichtsreich, wie Nebel mit der Peitsche zu vertreiben, weiß der junge Arzt. Vorurteile, so an anderer Stelle, "haben wie Duftstoffe eine doppelte Existenz; sie sind haltbar und flüchtig fein zugleich - haltbar wie die Pyramiden und flüchtig fein wie das zwanzigste Echo eines Echos oder wie der Duft von Hyazinthen in der Erinnerung, den man einmal im Dunkeln eingeatmet hat". Gleicht das mehr Proust oder doch Doderer? Jedenfalls ist es von großer Weisheit.

Gemessen daran, dass die rollenden Wellen von Eliots Prosa natürlich im Original die größte Freude bereiten, muss man die beiden neuen Versionen, die frisch bearbeitete von Rainer Zerbst und die ganz neue von Melanie Walz unparteiisch rühmen. Der Rezensent hat es sich mit Stellenvergleichen sauer werden lassen und konnte die Apothekerwaage am Ende nur wieder einpacken. Er hat übrigens auch die Erstübersetzung des Juristen Emil Lehmann, der mit Eliot und ihrem Lebensgefährten befreundet war, mitgelesen (auf einem E-Book für Zugfahrten, auf denen die Wälzer schwer handzuhaben sind). Die Nähe der Zeitgenossenschaft kommt ihr trotz etlicher Flüchtigkeiten bei manchen sozialhistorischen Details zugute, auch hat sie einen guten Ton in den Dialogen; und dass sie beim "Du" und "Sie" andere Entscheidungen als die modernen Übersetzer fällt, sollte zu einem Moment des Aufmerkens Anlass geben.

Doch George Eliots Buch ist so stark, dass es auf kleinere Einwände hier nicht ankommt. Man würde nur gern gleich noch mehr von dieser großen Autorin lesen - ein Riesenœuvre wartet auf weitere Übersetzungen.

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Quelle:
SZ vom 14.12.2019
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