Georg Schmidts Studie "Durch Schönheit zur Freiheit":Fünf Jahresgehälter Goethes für eine Italienreise

Georg Schmidts Studie "Durch Schönheit zur Freiheit": Die Regentin und ihr berühmtester Beamter: Weimars Herzogin Anna Amalia und Johann Wolfgang von Goethe.

Die Regentin und ihr berühmtester Beamter: Weimars Herzogin Anna Amalia und Johann Wolfgang von Goethe.

(Foto: Bertelsmann Lexikon Verlag/dpa)

Von schöngeistiger Politikferne kann keine Rede sein, die Klassiker waren Profis: Georg Schmidts Darstellung der Welt von Weimar und Jena um 1800.

Von Gustav Seibt

Die später so genannte Weimarer Klassik war nicht einfach ein geselliger Zirkel erlesener Geister, die sich zu freiem Gespräch und unentwegter geistiger Produktion um ein großzügiges Fürstenhaus versammelten. Diese im 19. Jahrhundert in Gemälden gefasste Imagination täuscht darüber hinweg, dass die begabten Menschen, die Herzogin Anna Amalia und ihr Sohn Carl August an ihren Weimarer Hof und an die Universität Jena holten, alle auch konkrete Aufgaben und Berufe erfüllten. Zudem stand Sachsen-Weimar und Eisenach in politischen Abhängigkeiten, es musste sich zwischen den größeren deutschen Mächten durchlavieren und vor allem auf das machthungrige Preußen Rücksicht nehmen.

Wieland wurde Prinzenerzieher, bald auch Verleger und Redakteur der damals erfolgreichsten deutschsprachigen Zeitschrift: ein Unternehmer. Goethe arbeitete professionell in Regierung und Verwaltung des Herzogtums; neben seiner Tätigkeit als Theaterleiter war er zeitweise für die Finanzen, das Militär, den Wegebau, den Bergbau zuständig. Seine Sorge um die Jenaer Hochschulpolitik - samt Bibliothek und Sammlungen - endete erst mit seinem Tod.

Herder war Superintendent und Hofprediger, er regierte die Kirche und den Elementarunterricht des kleines Landes. Schiller wurde Professor in Jena, kurz bevor Fichte und Hegel dort antraten. Die berühmt-berüchtigte Frühromantik kam wegen der attraktiven Hochschule in das kleine Städtchen, das überwiegend vom Konsum der Studenten lebte. Und daneben wirkten noch viele andere: allen voran der Großunternehmer Bertuch, der mit Luxusartikeln und Modezeitschriften handelte.

Viel Präzises zu den Finanzen

Diese konkreten, spezialisierten und rechenhaften Verhältnisse werden seit 150 Jahren immer genauer erforscht, wir kennen sie bis hinunter auf die Ebene einzelner Beamter, Geheimräte und Minister, der Bibliotheksdiener, des Schauspielpersonals. Seit der Wiedervereinigung 1990 hat sich ein noch einmal präziseres Detailwissen in unzähligen Einzelstudien und Kommentaren angesammelt, das sich Forschungsschwerpunkten und riesenhaften Neueditionen verdankt.

Dass der Jenaer Historiker Georg Schmidt daraus eine auf heutigen Kenntnisstand gebrachte Darstellung gemacht hat, ist verdienstvoll. Leider besitzt er die Gabe zum Erzählen und zur Personencharakteristik nur in geringem Umfang. Mögen viele Leser noch halbwegs deutliche Bilder von Wieland oder Herder im Kopf haben, dürfte das schon bei dem jahrelang leitenden Minister Christian Gottlob Voigt, einer humanistisch beflissenen, ängstlichen Beamtenseele, kaum der Fall sein. Und wem stehen Bertuch oder Kanzler Müller vor Augen?

Georg Schmidts Studie "Durch Schönheit zur Freiheit": Georg Schmidt: Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800. Verlag C.H. Beck, München 2022. 384 Seiten, 29,95 Euro.

Georg Schmidt: Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800. Verlag C.H. Beck, München 2022. 384 Seiten, 29,95 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

Immerhin erfahren wir viel Präzises zu den Finanzen: Die zweijährige Italienreise von Anna Amalia verschlang 65 000 Taler, fünf Jahresgehälter Goethes. Das war für ein chronisch überschuldetes Land eine astronomische Summe. Da bedeutete die Heirat des Erbherzogs Carl Friedrich mit einer Zarenschwester eine fühlbare Erleichterung.

Die Mitgift von Maria Pawlowna betrug eine Million Taler, von denen eine Hälfte zinsbringend angelegt war, sodass jährlich vier Goethe'sche Jahresgehälter flossen. Dazu kam eine russische Apanage von 60 000 Talern. Das erklärt, warum die Großfürstin noch bis in ihr hohes Alter, als sie die Uraufführung von Wagners "Lohengrin" finanzierte, fast aus der Portokasse mäzenatisch wirken konnte.

Von schöngeistiger Politikferne kann keine Rede sein, die Klassiker waren Profis

Wer diese realen Verhältnisse zur Kenntnis nimmt, wird auch das Verhältnis der Klassiker zur Politik und den Umbrüchen der Epoche besser verstehen. Von schöngeistiger Politikferne kann nämlich keine Rede sein, die Klassiker waren Profis, die in nächster Nähe der Herrschenden lebten, die wussten, wie mühselig das Regierungshandeln im Einzelnen ist und wie gering die Spielräume für Veränderungen waren. Das bewahrt vor revolutionärem Utopismus, bei aller Freude am freihändigen Politisieren etwa bei Wieland. Dieser spekulierte über Verfassungsfragen nicht weniger lustvoll als Pariser Dachstubenliteraten mit ihrer praktischen Unerfahrenheit - nur war Wieland eben viel, viel kenntnisreicher.

Goethes "Tasso" ist auch eine Satire auf Künstleranmaßung in ernsten Hofverhältnissen, weit entfernt vom moralischen Radikalismus westeuropäischer Intellektueller. Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen trennten folgerichtig die Sphären, und das war auch ein Beitrag zu politischer Nüchternheit. Das Gespenst des unpolitischen Deutschen - in Weimar konnte es jedenfalls nicht spuken. Das Apolitische der Klassiker kam nicht aus Weltfremdheit, sondern aus einem klaren Bewusstsein vom Eigenrecht der Sphären, also aus politischer Urteilskraft.

Die erzählerische Schwunglosigkeit dürfte auch mit der Produktionsweise zusammenhängen

Georg Schmidt arbeitet die Verlautbarungen der Klassiker ab, aber leider eben wie Verlautbarungen, in einer Reihung von Zitaten und indirekter Rede, die deren Witz erfolgreich dämpft. Und beim Blick der Klassiker auf die große Politik jenseits des dynastischen Kleinstaats entgeht ihm dann doch Wichtiges: Warum kommen die brillanten Forschungen von Hans-Jürgen Schings, die die Werke der Klassiker als "bestimmte Negationen" der Französischen Revolution exponieren, mit Bezügen im philologischen Detail, überhaupt nicht vor?

Die erzählerische Schwunglosigkeit dürfte auch mit der Produktionsweise zusammenhängen, mit der solche Bücher inzwischen - und seit der Pandemie verstärkt - entstehen. Sie werden an vorliegenden Exzerpten und Zitaten entlang formuliert in einem immergleichen Duktus. Bei Schmidt ist das an einer wahrhaft erratischen Zitierweise erkennbar. Goethe'sche Werke und Briefe werden teils nach der Weimarer Ausgabe, teils nach beliebiger Sekundärliteratur, teils sogar mit Links zur Scan-Halde zeno.org zitiert.

Und das ist verräterisch: Nichts leichter, als solche Belege schnell mit Copy-and-paste zusammenzustricken, da füllen sich die Seiten schnell. Da fällt es dann nicht auf, dass Goethe'sche Äußerungen zur Revolution aus dessen letzten Lebensjahren unterschiedslos neben gleichzeitigen Reaktionen auf die Ereignisse stehen, als hätte in langen Jahrzehnten nicht ein Reflexionsprozess stattgefunden. Streckenweise liest sich Schmidts Buch wie eine nicht fertig geschriebene Stoffsammlung, wie der Entwurf eines Buches. Das aber ist bei einem so kenntnisreichen Autor wirklich sehr zu bedauern.

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