Süddeutsche Zeitung

"Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert":Das unfassbare Tier

Felix Lüttge folgt den Spuren der Walfänger und zeigt, wie sie Pioniere des Wissens wurden und den amerikansichen Anspruch auf die Beherrschung der Weltmeere verkörperten.

Von Thomas Steinfeld

Über das Meer schrieb der Philosoph Hans Blumenberg, es kenne "keine Spuren von Gewesenem". Und hat er nicht recht? Unendlich groß liegt das Meer vor dem Betrachter. Stets bildet es dieselbe riesige Masse, auch wenn sich seine Farben, seine Strukturen, die Höhen und Tiefen in einem fort verändern. Man kann es nicht begehen, und es nimmt keine Veränderungen entgegen. Doch zugleich bildet das Meer eine Lebenswelt. Es leben Pflanzen darin und Tiere. Darüber hinaus werden Treibholz, Plastiktüten und Turnschuhe hierhin und dorthin geschwemmt, und selbstverständlich fahren Schiffe darüber, in großer Zahl. Wenn das "großzügige" Meer also selbst keine Spuren zulässt, wie Herman Melville in seinem Buch"Moby-Dick" meint, so nimmt es doch Dinge und Wesen auf, anhand derer sich ein Wissen über das Meer entwickeln lässt. Der Roman selbst gibt davon Zeugnis: Erschienen im Jahr 1851, zieht er durch diese werdende Wissenschaft wie ein Pottwal durch die Tiefsee.

Befördert wurde das Wissen über das Meer durch eine Industrie, von der nur wenige Ruinen geblieben zu sein scheinen, obwohl sie eine der frühen Branchen der Weltwirtschaft war. "Moby-Dick" handelt von dieser Industrie: dem Walfang. Ihm widmet der Basler Historiker Felix Lüttge nun ein Buch, das eine Geschichte des Erwerbszweigs liefert, die zugleich aber auch eine Kulturgeschichte des Wals selber ist. Diese Geschichte beginnt, grob gesprochen, mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, und sie führt bis in die Gegenwart. Mit dem Öl der Pottwale wurden einst Straßenlaternen und Leuchttürme betrieben, es diente der Herstellung von Seife, Lacken und Farben, es schmierte Hebewerke und Dampfmaschinen. Aus den Barten wurden Korsetts, Peitschen und Regenschirme hergestellt, und in den Gedärmen fand man einen Stoff, Ambra genannt, den man zur Produktion von Parfüms und Kosmetika verwendete. Diese Industrie verschwand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im selben Maße, wie das Fett der Wale durch Erdöl ersetzt wurde und sich billiger Ersatz auch für die anderen Körperteile des größten aller Säugetiere finden ließ. Im Jahr 1924 lief der letzte Walfänger aus dem Hafen von New Bedford im Süden des Staates Massachusetts aus. Nur in Japan wird, unter dem Vorwand der Forschung, heute noch Walfang betrieben.

Felix Lüttge ist Kulturhistoriker. Er beschreibt die Wege, über die der Wal auf das Papier kam. Er erzählt, wie aus schriftlich niedergelegten Erfahrungen akademische Disziplinen wurden; die "Cetologie", die "Walwissenschaft" zum Beispiel, die, im Unterschied zum Walfang selber, keineswegs verschwunden sind. Es geht ihm um die Bedeutung, die der Walfang für die Entwicklung der Geografie besaß, um die kartografische Erschließung von Strömen und Passagen, um den "intelligenten Walfänger", der mit seinen Aufzeichnungen eine politische und ökonomische Verwaltung der Meere erst ermöglichte. Es geht ihm um die Schwierigkeiten, die einerseits darin bestanden, den Wal als Tierart zu klassifizieren, und die andererseits, ob seiner schieren Größe, darin lagen, ihn zu vermessen und bildlich darzustellen. Das Buch schließt mit einer Anthropologie des Wals: mit einigen sehr menschlichen Theorien über ein Tier, das kein Fisch ist und kein Säugetier sein darf, das nirgendwo zu Hause ist, und das, wohin es auch gerät, aus den Proportionen geraten zu sein scheint.

"Ein Walfänger war mein Yale College und mein Harvard."

Ausgewachsene Wale meiden warmes Wasser. Sie halten sich lieber in kühlen Regionen auf. Wenn sie also die tropischen Meere nicht durchschwimmen: Wie kommt es, dass die gleichen, und wie es sich erwies, auch dieselben Tiere vor Grönland wie im nördlichen Pazifik anzutreffen sind? Die Harpunen der Walfänger sind, wie für das frühe 19. Jahrhundert belegt ist, mit Datum und Schiffsnamen markiert. Ein Wal, der einen im Atlantik empfangenen Wurfspieß mit sich herumschleppt, wenn er vor Japan erlegt wird, wird nicht zweimal den Äquator überquert haben: Der Indizienbeweis, dass es eine Nordwest-Passage geben musste, war anhand von Karten, Logbüchern und "whale charts" (Verzeichnissen von Sichtungen und Fängen) geführt, lange bevor Roald Amundsen in den Jahren 1903 bis 1906 einen Wasserweg von Grönland nach Alaska fand. Und lange bevor die Kapitäne britischer Paketschiffe lernten, sich auf ihren Touren nach Westen nicht der vollen Kraft des Golfstroms auszusetzen, wussten die Walfänger, dass man am besten an den Rändern dieser Strömung vorankommt.

Der Walfang war, wie Felix Lüttge darstellt, eine vor allem amerikanische Angelegenheit. Er war es, weil, nachdem Kalifornien erreicht war, der Weg nach Westen seine Fortsetzung auf dem offenen Meer fand. Die Eroberung der Weltmeere scheint vorbereitet gewesen zu sein, durch die Legende etwa, die "Mayflower", das Schiff, mit dem die Pilgerväter im Jahr 1620 nach Amerika gekommen waren, sei später zu einem Walfänger umgebaut worden. Und die Angelegenheit wurde systematisch ausgebaut, im Sinne einer ökonomischen und militärischen Nutzung der großen Wasserflächen: Die Verbindung von Wal und Walfänger, heißt es in Carl Schmitts "weltgeschichtlicher Betrachtung" mit dem Titel "Land und Meer" (1942), habe den Menschen "immer weiter in die elementare Tiefe maritimer Existenz" geführt. Felix Lüttge gibt dem Staatstheoretiker recht: Tatsächlich war der Walfänger immer auch der Pionier eines amerikanischen Anspruchs auf Beherrschung der Weltmeere gewesen, zuerst gegen die britische Konkurrenz, dann gegen den Rest der Welt.

In Herman Melvilles Roman "Moby-Dick" gibt es ein Kapitel, in dem sich der Erzähler gegen das Vorurteil zur Wehr setzt, sein Beruf gleiche der Arbeit eines Schlächters oder Fleischers. Er weiß viele Argumente gegen dieses Ressentiment anzuführen: die elementaren, beinahe mythischen Gewalten, denen der Walfänger ausgesetzt ist, die geografischen Entdeckungen, die er der Menschheit bescherte, die historische und ästhetische Bedeutung des Wals und des Walfangs. Der Erzähler schließt mit den Worten: "Ein Walfänger war mein Yale College und mein Harvard." Felix Lüttge muss diesen Satz als Herausforderung verstanden haben: In seinem Buch zeigt er, wie viel Wahrheit darin steckt, buchstäblich.

Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 280 Seiten, 28 Euro.

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SZ vom 23.07.2020
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