Süddeutsche Zeitung

"Generation Beziehungsunfähig" im Kino:Liebe trotz Tinder

Die Komödie "Generation Beziehungsunfähig" von Helena Hufnagel bringt die Dating-Probleme der Gegenwart auf den Punkt.

Von Nicolas Freund

Tim ist ziemlich sauer auf Ghost, obwohl er noch nicht einmal weiß, wie sie wirklich heißt. Ghost ist nämlich gerade dabei, ihm an der Tanke das letzte Stracciatella-Eis wegzuschnappen. Vor ein paar Minuten erst hatte sich Tim auf einer Party über eine Sexpraktik unterhalten, bei der diese Eissorte zum Einsatz kommt, trotz der dabei möglicherweise hinderlichen Schokostückchen. Das macht es natürlich noch provokanter, wenn diese Ghost, schön schnippisch gespielt von Luise Heyer, sich jetzt den letzten Becher gekrallt hat. Als sie dann nicht nur mit dem Eis, sondern auch mit Tims Drive-Now-Auto davonbraust, ist es endgültig um ihn geschehen. Er muss sie unbedingt wiedersehen.

Der Generation, die jetzt so zwischen Ende 20 und Ende 30 ist, wurde ja schon alles Mögliche attestiert, von politischer Apathie bis zur sprichwörtlich gewordenen Beziehungsunfähigkeit. Dieser Tim, den Frederick Lau in der Verfilmung des Beststellers von Michael Nast spielt, ist ein besonders schwerer Fall der Beziehungsunfähigkeit. Nach Tinder ist er so süchtig, wie er von der Dating-App gelangweilt ist. Obwohl er längst im Berufsleben angekommen ist und in einer bemüht hippen Werbeagentur arbeitet, pflegt Tim ansonsten peinlich genau einen ungezwungenen Studenten-Lifestyle mit Rennrad und WG-Leben. Beziehungen verbraucht er wie Einwegkaffeebecher. "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment", die Leitparole könnte er sich übers Bett schreiben. Dass viele der Gleichaltrigen um ihn herum längst heiraten, Kinder bekommen und in geräumigen Altbauwohnungen leben, ist für Tim eher Bestätigung der vermeintlichen Überlegenheit seines unspießigen Lebensstils. Tim scheint nicht einmal zu merken, dass er in seiner betonten Unabhängigkeit den Anschluss verpasst hat - und darüber eigentlich todunglücklich ist.

Ghosting, also das plötzliche Verschwinden aus dem Leben des Partners, haben die beiden perfektioniert

Regisseurin Helena Hufnagel inszeniert das Dating-Leben ihrer Generation als Liebeskomödie, die es in sich hat. Der Kern ist eigentlich reine Kinoschnulze: Mann trifft Frau, es klappt alles nicht, und nach einigen Schwierigkeiten dann eben doch. Ende. Dieses klassische Muster transportiert Hufnagel aber mit präzise beobachteten Situationen und treffsicheren Sätzen in die Tinder-Gegenwart. Schneller als erwartet landen Tim und Ghost im Bett, Sex wird in allen Varianten abgespult, aber wie geht es dann weiter? Happy End nach einer halben Stunde? Nicht mit Tim und Ghost, denn ihre Freiheit geben zwei wie diese beiden für nichts auf, nicht einmal für die Liebe. Die fängt ja bekanntlich oft leicht an und wird dann kompliziert.

Das sogenannte Ghosting, also das erklärungslose Verschwinden aus dem Leben eines Partners, ist eine der typischen Beziehungstechniken dieser ungebundenen Generation und sowohl Ghost als auch Tim haben den schwarzen Gürtel im Ghosting.

Obwohl Tim sich ausnahmsweise etwas mehr erhofft, folgt auf die Triebabfuhr einfach: nichts. Ruhe im Handy und im Bett. Vom Mitbewohner gefragt, ob er Ghost eigentlich von seiner Liebe erzählt habe, antwortet Tim: "Ich bin doch kein Vollidiot, ich habe ihr natürlich nicht gesagt, dass ich sie liebe." Aus Verzweiflung geht er mit seiner Arbeitskollegin Charlotte ins Bett, deren mindestens genauso aufgedrehte Verzweiflung Henriette Confurius mit unheimlicher Intensität spielt. Noch beim Sex merken beide, dass sie etwas ganz anderes suchen. "Ich glaube, hier kommt heute niemand mehr", bringt sie die Sache auf den Punkt und probiert frustriert, ob der Mitbewohner mehr taugt.

Das Ghosting ist die dunkle Seite der sexuellen Freiheit für alle, denn natürlich bedeutet diese auch, dass mit jemandem ins Bett zu gehen, erst mal gar nichts bedeutet. Der nächste Schritt - Tim versteht darunter gemeinsam an einem verkaterten Sonntag Asia-Fast-Food zu mampfen - ist nicht mehr selbstverständlich. Denn wenn Liebesbeziehungen den Gesetzen des Marktes unterworfen werden, wie von Michel Houellebecq schon 1994 in "Ausweitung der Kampfzone" beschrieben und von der Soziologin Eva Illouz theoretisiert, wird die Sexualität zum Konsumprodukt, während die eigentlich dazugehörenden Gefühle es schwer haben, sich in diesem Konkurrenzkampf in gleicher Weise zu behaupten. Die einhergehende Befreiung der Sexualität und Emotionen von einstigen gesellschaftlichen Zwängen hat sich in der Gegenwart derart radikalisiert, dass jede Bindung an jemand oder etwas anderes als das eigene Selbst als massiver Angriff auf die Selbstverwirklichung wahrgenommen wird.

Liebesbeziehungen der Gegenwart sind deshalb oft wie das letzte Stracciatella-Eis, um das zwei Verzweifelte nachts an der Tankstelle streiten. Die Szene ist so genial, weil da alles drinsteckt, von der Ökonomisierung der Liebe durch Plattformen wie Tinder und der als selbstverständlich angenommenen ständigen Verfügbarkeit des begehrten Objekts bis zur flüchtigen Möglichkeit einer Beziehung, die aber überhaupt erst als solche erkannt werden muss. Denn der Becher ist ja eigentlich viel zu groß, um ihn alleine zu essen, und wenn man zu lange wartet, schmilzt das Eis.

Generation Beziehungsunfähig, Deutschland 2021 - Regie: Helena Hufnagel. Buch: Helena Hufnagel, Hilly Martinek und Stefanie Ren. Kamera: Andreas Berger. Mit: Frederick Lau, Luise Heyer, Henriette Confurius, Tedros Teclebrhan. Warner Bros., 84 Minuten.

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