Genderdebatte:Tief in der Sprache lebt die alte Geschlechterordnung fort

Genderdebatte: Die Verwendung des generischen Maskulinums in Stellenanzeigen führt zu einem geringeren Anteil weiblicher Bewerbungen.

Die Verwendung des generischen Maskulinums in Stellenanzeigen führt zu einem geringeren Anteil weiblicher Bewerbungen.

(Foto: rclassen/photocase; Bearbeitung SZ)
  • Der Rat für deutsche Rechtschreibung befasst sich am morgigen Freitag mit dem Thema "geschlechtergerechte Schreibung".
  • Er könnte beschließen, das Gendersternchen offiziell ins deutsche Regelwerk aufzunehmen.
  • Das ist sinnvoll, sagen der Linguist Henning Lobin und die Linguistin Damaris Nübling, wer die Gleichstellung der Geschlechter will, muss sie auch beide ansprechen.

Gastbeitrag von Henning Lobin und Damaris Nübling

Es ist erstaunlich: Da gibt es seit einem Vierteljahrhundert Regelungen und Verordnungen von Bund und Ländern zur geschlechtergerechten Verwendung der deutschen Sprache, erlassen von Parlamenten und Regierungen - und immer wieder aufs Neue erhebt sich ein vermeintlicher Volksprotest gegen diese angeblich "von oben" verordnete "Verunstaltung" des Deutschen.

Seit Anfang des Jahres ist dies wieder zu beobachten. Auslöser dafür ist der Ratgeber "Richtig gendern" des Dudenverlags, in dem Tipps und sprachliche Hintergründe zur Umsetzung einer angemessenen Berücksichtigung beider Geschlechter beim Formulieren vermittelt werden, gerade auch, wenn es darum geht, die erwähnten Verordnungen umzusetzen. Beleidigungen und Häme ergießen sich über den Verlag und die beiden Autorinnen Gabriele Diewald und Anja Steinhauer, die als germanistische Linguistinnen in ihrem Buch fundierte, differenzierte Empfehlungen geben, und das in höchst moderater, gendertheoretisch nicht auch nur annähernd extremer Art und Weise.

Sicherlich hat auch der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag zur Konjunktur dieses Themas beigetragen. Im Programm der Partei wird an mehreren Stellen die Abschaffung des "Genderns" gefordert. Zusammen mit der Kritik an englischen Fremdwörtern und der Verwendung des Englischen in Wirtschaft und Wissenschaft bildet dies die Begründung für die Forderung nach Aufnahme des Deutschen als Landessprache ins Grundgesetz. Über einen entsprechenden Gesetzentwurf der AfD-Fraktion hat der Bundestag am 2. März tatsächlich debattiert und diesen später mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.

Die Argumente sind falsch

Wenn am morgigen Freitag der Rat für deutsche Rechtschreibung, der den Ländern ja die Regelungen für die amtliche Schreibweise von Wörtern vorschlägt, sich mit dem Thema "geschlechtergerechte Schreibung" befasst und dabei beschließen sollte, das Gendersternchen offiziell ins Regelwerk aufzunehmen, wird die polemische Häme von vorne losgehen.

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Unabhängig von diesen populistischen Angriffen wird allerdings auch aus der Sprachwissenschaft Kritik am Gendern geäußert. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Punkte: Genus hat, erstens, nichts mit Sexus zu tun, also das grammatische nichts mit dem biologischen Geschlecht. Zweitens beziehen sich Personenbezeichnungen im Maskulinum nicht nur auf Männer, sondern auf beide Geschlechter gleichermaßen. Dies nennt man das "generische" Maskulinum.

Beide Erkenntnisse sind eng miteinander verflochten und bilden den Dreh- und Angelpunkt einer jeden Kritik an geschlechtergerechter Sprache. Wenn das Genus nichts über das Geschlecht sagt, sollten Frauen kein Problem damit haben, im Maskulinum angesprochen zu werden - und Ausdrücke im generischen Maskulinum wie "der Wähler" stellen aufgrund der Unmarkiertheit des Sexus ohnehin keinen präzisierungsbedürftigen Fall dar. Leider gibt es mit diesen Erkenntnissen ein nicht ganz unwichtiges Problem: Beide sind sie nämlich falsch.

Dass etwas mit der "Genus ist nicht Sexus"-These nicht stimmen kann, sieht man schon daran, dass das Genus in bestimmten Fällen das einzige Mittel ist, das natürliche Geschlecht zu bezeichnen. Substantivierte Adjektive werden allein durch das Genus auf Männer oder Frauen bezogen: die Kranke gegenüber der Kranke. Viel wichtiger ist aber, dass in der Linguistik längst der Nachweis erbracht wurde, dass das Genus direkte Auswirkungen auf die Vorstellung von Sexus hat, und zwar konkret auf die Wahrnehmung. Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass Personenbezeichnungen wie Terrorist, Spion, Physiker, Lehrer, Erzieher, Florist oder Kosmetiker ein sogenanntes soziales Geschlecht aufweisen, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Es leitet sich aus dem realen Geschlechteranteil ab und aus Stereotypen, die man der jeweiligen Personengruppe zuschreibt. Bei diesen Beispielen nimmt der männliche Anteil vom Terroristen bis zum Kosmetiker in diesem Sinne beispielsweise ab.

In einem psycholinguistischen Experiment wurde schon vor zehn Jahren herausgefunden, dass bei maskulinen Bezeichnungen für stereotyp männliche (Spione), neutrale (Zuschauer) und weibliche Tätigkeiten (Kosmetiker) von den meisten Menschen angenommen wird, dass es sich dabei um reine Männergruppen handelt. Dies betrifft nicht nur Spione, sondern auch geschlechtlich ausgewogene Wörter wie Zuschauer sowie mehrheitlich weibliche Kosmetiker. In dem Experiment waren Fortsetzungen von Sätzen des Typs "Die Spione kamen aus dem Besprechungsraum" zu bewerten. Einer Gruppe von Versuchspersonen wurde die Fortsetzung "Offensichtlich war eine der Frauen verärgert" gezeigt, einer anderen "Offensichtlich war einer der Männer verärgert". Die Versuchspersonen sollten durch Drücken auf eine Ja- oder auf eine Nein-Taste entscheiden, ob die Fortsetzung funktioniert; außerdem wurde die Zeit bis zum Tastendruck gemessen. Beide Messungen ergaben, dass die Fortsetzungen mit männlichen Akteuren deutlich spontaner und häufiger akzeptiert wurden als die mit weiblichen, und zwar bei allen Personenbezeichnungen. Das maskuline Genus ist hier also "stärker" als das soziale Geschlecht.

Der gleiche Versuch wurde auch mit englischen Versuchspersonen durchgeführt. Englisch kennt bei Substantiven kein Genus (man kombiniert alle mit dem undifferenzierten the). Hier stellt sich die Situation anders dar als im Deutschen: Die gleichen Sätze ergaben, dass im Englischen allein das soziale Geschlecht das Antwortverhalten steuert, dass also bei "spies" mehr Männer, bei "spectators" beide Geschlechter und bei "beauticians" mehr Frauen als Männer assoziiert werden. Das Genus steuert maßgeblich die Vorstellung von Sexus.

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