Es ist erstaunlich: Da gibt es seit einem Vierteljahrhundert Regelungen und Verordnungen von Bund und Ländern zur geschlechtergerechten Verwendung der deutschen Sprache, erlassen von Parlamenten und Regierungen - und immer wieder aufs Neue erhebt sich ein vermeintlicher Volksprotest gegen diese angeblich "von oben" verordnete "Verunstaltung" des Deutschen.
Seit Anfang des Jahres ist dies wieder zu beobachten. Auslöser dafür ist der Ratgeber "Richtig gendern" des Dudenverlags, in dem Tipps und sprachliche Hintergründe zur Umsetzung einer angemessenen Berücksichtigung beider Geschlechter beim Formulieren vermittelt werden, gerade auch, wenn es darum geht, die erwähnten Verordnungen umzusetzen. Beleidigungen und Häme ergießen sich über den Verlag und die beiden Autorinnen Gabriele Diewald und Anja Steinhauer, die als germanistische Linguistinnen in ihrem Buch fundierte, differenzierte Empfehlungen geben, und das in höchst moderater, gendertheoretisch nicht auch nur annähernd extremer Art und Weise.
Sicherlich hat auch der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag zur Konjunktur dieses Themas beigetragen. Im Programm der Partei wird an mehreren Stellen die Abschaffung des "Genderns" gefordert. Zusammen mit der Kritik an englischen Fremdwörtern und der Verwendung des Englischen in Wirtschaft und Wissenschaft bildet dies die Begründung für die Forderung nach Aufnahme des Deutschen als Landessprache ins Grundgesetz. Über einen entsprechenden Gesetzentwurf der AfD-Fraktion hat der Bundestag am 2. März tatsächlich debattiert und diesen später mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Die Argumente sind falsch
Wenn am morgigen Freitag der Rat für deutsche Rechtschreibung, der den Ländern ja die Regelungen für die amtliche Schreibweise von Wörtern vorschlägt, sich mit dem Thema "geschlechtergerechte Schreibung" befasst und dabei beschließen sollte, das Gendersternchen offiziell ins Regelwerk aufzunehmen, wird die polemische Häme von vorne losgehen.
Unabhängig von diesen populistischen Angriffen wird allerdings auch aus der Sprachwissenschaft Kritik am Gendern geäußert. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Punkte: Genus hat, erstens, nichts mit Sexus zu tun, also das grammatische nichts mit dem biologischen Geschlecht. Zweitens beziehen sich Personenbezeichnungen im Maskulinum nicht nur auf Männer, sondern auf beide Geschlechter gleichermaßen. Dies nennt man das "generische" Maskulinum.
Beide Erkenntnisse sind eng miteinander verflochten und bilden den Dreh- und Angelpunkt einer jeden Kritik an geschlechtergerechter Sprache. Wenn das Genus nichts über das Geschlecht sagt, sollten Frauen kein Problem damit haben, im Maskulinum angesprochen zu werden - und Ausdrücke im generischen Maskulinum wie "der Wähler" stellen aufgrund der Unmarkiertheit des Sexus ohnehin keinen präzisierungsbedürftigen Fall dar. Leider gibt es mit diesen Erkenntnissen ein nicht ganz unwichtiges Problem: Beide sind sie nämlich falsch.
Dass etwas mit der "Genus ist nicht Sexus"-These nicht stimmen kann, sieht man schon daran, dass das Genus in bestimmten Fällen das einzige Mittel ist, das natürliche Geschlecht zu bezeichnen. Substantivierte Adjektive werden allein durch das Genus auf Männer oder Frauen bezogen: die Kranke gegenüber der Kranke. Viel wichtiger ist aber, dass in der Linguistik längst der Nachweis erbracht wurde, dass das Genus direkte Auswirkungen auf die Vorstellung von Sexus hat, und zwar konkret auf die Wahrnehmung. Grundlegend dafür ist die Erkenntnis, dass Personenbezeichnungen wie Terrorist, Spion, Physiker, Lehrer, Erzieher, Florist oder Kosmetiker ein sogenanntes soziales Geschlecht aufweisen, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Es leitet sich aus dem realen Geschlechteranteil ab und aus Stereotypen, die man der jeweiligen Personengruppe zuschreibt. Bei diesen Beispielen nimmt der männliche Anteil vom Terroristen bis zum Kosmetiker in diesem Sinne beispielsweise ab.
In einem psycholinguistischen Experiment wurde schon vor zehn Jahren herausgefunden, dass bei maskulinen Bezeichnungen für stereotyp männliche (Spione), neutrale (Zuschauer) und weibliche Tätigkeiten (Kosmetiker) von den meisten Menschen angenommen wird, dass es sich dabei um reine Männergruppen handelt. Dies betrifft nicht nur Spione, sondern auch geschlechtlich ausgewogene Wörter wie Zuschauer sowie mehrheitlich weibliche Kosmetiker. In dem Experiment waren Fortsetzungen von Sätzen des Typs "Die Spione kamen aus dem Besprechungsraum" zu bewerten. Einer Gruppe von Versuchspersonen wurde die Fortsetzung "Offensichtlich war eine der Frauen verärgert" gezeigt, einer anderen "Offensichtlich war einer der Männer verärgert". Die Versuchspersonen sollten durch Drücken auf eine Ja- oder auf eine Nein-Taste entscheiden, ob die Fortsetzung funktioniert; außerdem wurde die Zeit bis zum Tastendruck gemessen. Beide Messungen ergaben, dass die Fortsetzungen mit männlichen Akteuren deutlich spontaner und häufiger akzeptiert wurden als die mit weiblichen, und zwar bei allen Personenbezeichnungen. Das maskuline Genus ist hier also "stärker" als das soziale Geschlecht.
Der gleiche Versuch wurde auch mit englischen Versuchspersonen durchgeführt. Englisch kennt bei Substantiven kein Genus (man kombiniert alle mit dem undifferenzierten the). Hier stellt sich die Situation anders dar als im Deutschen: Die gleichen Sätze ergaben, dass im Englischen allein das soziale Geschlecht das Antwortverhalten steuert, dass also bei "spies" mehr Männer, bei "spectators" beide Geschlechter und bei "beauticians" mehr Frauen als Männer assoziiert werden. Das Genus steuert maßgeblich die Vorstellung von Sexus.
Nun gibt es hiervon berühmte Ausnahmen: das Mädchen, das Fräulein, das Weib, die Schwuchtel, die Memme, der Vamp. Sie werden oft bemüht, um diesen Genus-Sexus-Zusammenhang zu widerlegen. Schaut man jedoch genauer hin, dann bestätigen sie diesen Zusammenhang sogar auf geradezu frappierende Weise: Sie markieren nicht das Geschlecht, sondern Geschlechterrollen, also die sozialen Erwartungen daran, wie sich die Geschlechter zu verhalten haben. Bei all diesen "Ausnahmen" handelt es sich nämlich um gesellschaftlich missbilligte Verstöße gegen Geschlechtsrollen. Die betreffenden Personen werden aus ihrer "richtigen" Genusklasse verbannt, weil sie sich "falsch" verhalten, der soziale Verstoß wird durch einen grammatischen geahndet. Das betrifft zum einen homosexuelle Männer, die aus Sicht einer solchen Gesellschaft dasjenige Geschlecht begehren, das "normalerweise" Frauen begehren. Deswegen stehen ihre Bezeichnungen häufig im Femininum (die Schwuchtel, die Tunte, die Tucke). Der feige Mann wird durch die Memme ausgestellt. Umgekehrt geriert sich der Vamp im Maskulinum durch die Macht über Männer "wie ein Mann".
Im Neutrum werden hingegen verachtete, abstoßende Frauen (das Weib, das Luder) bezeichnet, zum anderen noch nicht "voll entwickelte", also in der alten Geschlechterordnung solche, die noch unverheiratet sind: das Dirndl, das Wicht, das Fräulein, das Girl. Jungen erscheinen von Anfang an, auch in den Dialekten, im maskulinen Genus: der Kerl, der Bub, der Junge. Mehr noch: Verkleinerte Männernamen wie Peterle scheuen in vielen Dialekten das Neutrum, indem sie trotz ihrer Diminutivendung im Maskulinum verbleiben (der Peterle). Umgekehrt bekommen Mädchen und Frauen sehr viel häufiger und oft auch lebenslang diminuierte Namen, die immer im Neutrum stehen ('s Annele).
Diese Praxis hat in manchen Dialekten dazu geführt, dass auch die vollen Namen neutral geworden sind (das Anna). In einem Forschungsprojekt an der Universität Mainz wurde unter anderem ermittelt, dass es früher die unter männlicher Familienherrschaft stehenden Frauen (vor allem Ehefrauen, Töchter und Mägde) waren, die durch das Neutrum gebannt wurden, während fremde, selbständige und sozial höherstehende Frauen das Femininum erhielten. Noch heute wirkt das Neutrum bei weiblichen Vornamen in vielen Dialekten familiär, vertraut und durchaus freundlich, das Femininum entsprechend abweisend-distanzierend.
Dass es sich dabei um Reflexe alter, heute weitgehend überkommener Geschlechterordnungen handelt, liegt auf der Hand - dennoch haben sich diese Verhältnisse grammatisch verfestigt. Tief in der Sprache, genauer: in solchen Genuszuweisungen lebt die alte Geschlechterordnung fort. Genus verweist also nicht nur auf Sexus, es leistet noch viel mehr: Es verweist auf soziale Erwartungen an die Geschlechter (Gender) und damit auf Geschlecht im umfassenden Sinn.
Diese und andere Forschungsergebnisse zeigen, dass Sprache die Wahrnehmung von Menschen zwar nicht festlegt, aber doch lenkt, und dass in der Sprache grundlegende soziale Verhältnisse kodiert sind. Deshalb kann durch Sprache auch eine bestimmte Weltwahrnehmung verstärkt, eine andere abgeschwächt werden. Wenn etwa Berufe sowohl in einer männlichen als auch in einer weiblichen Form (Ingenieurinnen und Ingenieure) vermittelt werden, schätzen Kinder typisch männliche Berufe als erreichbarer ein und trauen sich selbst eher zu, diese zu ergreifen, wie eine andere Untersuchung ergeben hat. Offenbar wird bei den Kindern das Selbstvertrauen, entsprechende Berufe ergreifen zu können, durch die geschlechtergerechten Bezeichnungen erhöht. Bei Erwachsenen wiederum lässt sich nachweisen, dass die Verwendung des generischen Maskulinums in Stellenanzeigen zu einem geringeren Anteil weiblicher Bewerbungen führt.
Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka
Vor diesem Hintergrund ist es also nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, mit und über Menschen in der öffentlichen Kommunikation so zu sprechen, dass Männer und Frauen explizit benannt sind - allein das sollte ja eigentlich schon Grund genug sein, dies zu tun. Es ist darüber hinaus geradezu eine demokratische Pflicht, die Entfaltung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit nicht schon durch die Ablehnung geeigneter sprachlicher Mittel zu behindern. "Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka", hat Luise Pusch einmal gesagt. Es ist die Pflicht der Linguistik, in der Debatte um die geschlechtergerechte Sprache darauf zu verweisen, dass eben dieses generische Maskulinum genauso eine Idealisierung darstellt wie die "Genus ist nicht Sexus"-These - beides hat mit der Sprachrealität wenig zu tun.
An dieser Stelle tritt aus unserer Sicht sogar ein grundsätzlicher Auffassungsunterschied zutage: der zwischen System und Gebrauch. Die Sprachwissenschaft war lange Zeit geprägt durch eine Verabsolutierung des Sprachsystems, das in Gestalt von Grammatikregeln, Deklinationstabellen und anderen Strukturvorgaben als ein fest gefügtes Gerüst der Kommunikation angesehen wurde. Aufgrund riesiger digitaler Sammlungen von Texten unterschiedlichster Art wissen wir heute aber, wie vielfältig, mit wie vielen Varianten und Alternativen Sprache im Gebrauch tatsächlich realisiert wird. Das Gerüst von Regeln ist nur eine Abstraktion des Gebrauchs, und ein Bild der Sprache, das zu diesem Befund viel besser passt, ist das eines Gewässers, dessen Lauf, Strömungsgeschwindigkeit und Wasserzusammensetzung sich immer wieder den Umgebungsbedingungen anpasst.
Eine solche Umgebungsbedingung des Gewässers der deutschen Sprache ist heute die Sichtbarmachung der verschiedenen Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft. Nicht jedem Wunsch nach Sichtbarkeit kann mit sprachlichen Mitteln adäquat begegnet werden. Gerade das Genus-System jedoch ist darauf zugeschnitten, eindeutig auf Männer und Frauen zu verweisen. Deshalb ist und bleibt der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache eine einfache, direkte und wirkungsvolle Möglichkeit, an der Gleichstellung der Geschlechter mitzuwirken.
Henning Lobin ist Sprachwissenschaftler an der Universität Gießen. Im August wird er Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Demnächst erscheint von ihm "Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache" (Metzler-Verlag). Damaris Nübling ist Professorin für Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Konrad-Duden-Preisträgerin 2014. Im Herbst erscheint von ihr und Helga Kotthoff "Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht" (Narr-Verlag).