In einer Folge der Schnulzenfilmreihe Inga Lindström stellt Hauptfigur Eva ihr Fahrrad am roten Holzhaus ab, um auf der angrenzenden Weide nach den Schafen zu sehen. Das Gras leuchtet grün in der Sommersonne und der nahe See ist in einen hitzigen Dunst gehüllt. "Guten Morgen, Schafe", ruft sie, während hinter ihr die Wolken aufsteigen. Es könnte heute noch gewittern, aber Eva weiß, dass der Sturm vorüberziehen wird. Ihr Schweden ist das der tausend Seen und der lauen Sommer. Und so wie Eva fühlen viele Menschen auf der ganzen Welt, wenn sie das Wort "Schweden" hören. Die meisten werden Probleme haben, dieses Bild vom harmonisch-freundlichen Idyll mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass nach der Parlamentswahl vom Sonntag die rechtsextremen Schwedendemokraten mit fast 18 Prozent in den Reichstag einziehen werden.
Länder wie Schweden haben das gewisse Etwas. Ein positives Image, das bestimmte Assoziationen auslöst. Es ist die Vorstellung, die das betreffende Land freiwillig oder unfreiwillig nach außen trägt. In manchen Fällen folgt eine Idealisierung, in anderen nimmt man undifferenziert nur noch das Schlechte wahr. Syrien etwa verbinden die meisten wohl nur noch mit Kriegsszenerien aus den Nachrichten, während beim Gedanken an Italien Urlaubsstimmung aufkommt. Aber warum ist das so? Woraus setzt sich das Image von Staaten zusammen und warum hat es oft so wenig mit einem differenzierten Blick auf die Lebensrealität hinter den Landesgrenzen gemein?
Wirft man einen Blick gen Norden, findet sich kaum ein besseres Beispiel in Sachen kollektiver Staatenidealisierung als die skandinavischen Länder. Sie gelten als soziale Utopiestaaten, der Economist nannte 2013 die nordischen Länder auf seinem Titelblatt "The next supermodel". Wenn man bei Google das Stichwort "Vorbild Skandinavien" eingibt, erhält man fast 180 000 Treffer. Von Politik über Lifestyle bis Mode - Ausnahmen von der Weichzeichnerei findet man auf den ersten Blick wenige und es scheint auch allerlei Anlass zu geben, die nordischen Länder mit ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber kultureller Vielfalt, erfolgreicher Gender- und Bildungspolitik im wohligen Bullerbü zu verorten. Längst versprühen Zeitschriften mit Namen wie Hygge (Dänisch für "gemütlich") skandinavische Behaglichkeit, Island macht mit Fußball und Tourismus von sich reden und Schwedens Außenministerium bekam kürzlich Aufmerksamkeit, weil es ein Handbuch für feministische Außenpolitik herausgab.
Der Norden ist weder Utopie noch Dystopie
Dabei haben gerade die skandinavischen Länder mit dem klassischen Modell vom heimeligen Wohlfühlstaat kaum noch etwas zu tun, sagt Bernd Henningsen, Honorarprofessor für Skandinavistik und nordeuropäische Politik am Nordeuropa-Institut der Berliner Humboldt-Universität. In Schweden bereitet die organisierte Bandenkriminalität in Großstädten wie Malmö und Göteborg Sorgen und gab den Schwedendemokraten mit ihrer Sicherheitsagenda Aufschwung. Bei der aktuellen Wahl wurde die Partei um Jimmie Åkesson mit fast 18 Prozent drittstärkste Kraft. In Dänemark, das seit 2015 mehr als 60 Asylrechtsverschärfungen durchsetzte, sitzt die Dänische Volkspartei mit 21 Prozent der Stimmen als zweitstärkste Kraft im Parlament und stützt damit die Minderheitsregierung um Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen. In Norwegen ist das Bild ein Ähnliches: Seit Jahren gibt es hier eine starke rechte Szene. Bei den Parlamentswahlen 2013 wurde die rechtspolitische Fortschrittspartei drittstärkste Kraft.
Trotz dieser Entwicklung scheint die Vorbildfunktion der skandinavischen Länder nicht abzuflauen. Selbst angesichts der langjährigen Präsenz rechter Parteien in skandinavischen Parlamenten fragte sich der Spiegel nach der Bundestagswahl noch, was Deutschland daraus im Hinblick auf den Umgang mit der AfD lernen könne. Zwischen dem Hype um das "Nordische Modell" und der nordischen Lebensrealität klafft ein gewaltiger Spalt, der den Norden zur Utopie verklärt und schlechte Nachrichten aus dem Bullerbü-Idyll seltsam deplatziert wirken lässt. Aber der Norden ist keine Utopie, er ist auch keine Dystopie. "Es sind ganz normale Länder, in denen gesoffen, gehurt und gemordet wird, wie in jedem anderen Land auch", sagt Henningsen.
Die Idealisierung des Nordens mag ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Staatenimage und Realität sein, ist aber bei weitem kein Einzelfall. Simon Anholt ist ehemaliger Politikberater und Gründer des Nation Brands Index, der die internationale Reputation von Staaten bemisst. Anholt beschreibt das Phänomen als "reality with delay". Länder behalten ein Image bei, dem sie vor vielen Jahren einmal gerecht wurden. "Länderimages ändern sich sehr langsam", erklärt er. "Ein Land kann sich aufgrund politischer Veränderungen über Nacht zu einem Desaster wandeln, während sein internationales Image für zwanzig, dreißig Jahre bestehen bleibt." Ein Länderimage sei weniger liquide Währung denn vielmehr Anlagegut, das erst über einen langen Zeitraum an Wert verliere.
2008 hat Simon Anholt den Nation Brands Index erstmalig vorgestellt. Der Index spiegelt Anholts These: Seit 2008 hat sich in den Top Ten kaum etwas getan. So blieb Großbritannien trotz Brexit 2016 und 2017 auf einem konstanten dritten Platz. Schweden ruht seit Jahren auf dem zehnten Platz während Länder wie Japan, Italien und Frankreich ab und an einen Rang nach oben oder unten rutschen. Die USA dagegen, die sich mit Deutschland seit Erscheinen des Index regelmäßig an der Spitze abwechseln, stürzten nach der Präsidentschaftswahl 2016 binnen eines Jahres vom ersten auf den sechsten Platz ab. "Die USA sind eine Art Ausnahme", sagt Anholt. "Wie schnell sich das Image eines Landes verändert, hängt sehr von dessen Prominenz ab." Bei einem Land, das derart in der internationalen Öffentlichkeit stehe wie die USA, verändere sich das Image beinahe in Echtzeit. Das sei aber ein Einzelfall. "Es ist erstaunlich, wie sehr sich ein Land ändern muss, bevor die Menschen es bemerken."
Wie viel ein positives Länderimage wert ist, zeigen nicht nur die Milliardenbeträge, die laut Anholt jährlich in die Länder-PR, das sogenannte "Nation Branding", gesteckt werden. "Länder sind enorm von ihrem Ruf abhängig, um in der Welt zu überleben und zu gedeihen. Wenn ein Land ein tolles, positives Image hat wie Deutschland, Schweden oder die Schweiz, ist alles einfach und alles ist billig", erklärte er 2014 in einem TED Talk. Die Folge: Investoren und Touristen würden auf das Land aufmerksam und man könne Produkte teurer verkaufen.
Aber nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten sei ein gutes Image von Vorteil. "Es kann die Länder für eine Weile beschützen, wenn die Dinge in Schieflage geraten." Im Falle Dänemarks, dessen Sozialdemokraten erst Anfang des Jahres ein Papier zur Abschaffung des Asylrechts vorlegten, scheint das zuzutreffen. "Das Land hat aufgrund seines guten Images einen Bonus", ist auch Henningsen überzeugt. "Nach meiner Ansicht ist Dänemark angesichts der aktuellen Ausländerpolitik langsam reif für ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission."
Wer sich positiv einbringt, profitiert auf lange Sicht
Aber wie kommt ein gutes Image überhaupt erst zustande? Tatsächlich gibt es einige prominente Beispiele für offensichtliches Nation Branding, insbesondere bei sogenannten Schurkenstaaten. Wie Anholt 2015 in einem Interview mit SZ.de erklärte, sei das aber wenig effektiv. "Von schlecht zu gut, von gut zu schlecht - es ist eine generationenübergreifende Veränderung." Also nichts, was sich mittels PR-Kampagnen à la "Incredible India" von heute auf morgen korrigieren ließe. Die effektivste Methode, ein gutes Image zu sichern, sieht Anholt in der Art und Weise, wie sich Länder international engagieren. "Der Grund, warum Skandinavien ein sehr gutes Image hat, ist der gleiche, warum Deutschland und die Schweiz ein sehr gutes Image haben: Sie verhalten sich seit Jahrzehnten sehr ordentlich und tragen seit Generationen konsequent und großzügig zur internationalen Gemeinschaft bei."
Diesen Ruf wieder zu verlieren, sei schwierig. "Wenn man ihn einmal hat, bleibt er haften. Menschen empfinden es als sehr bedrohlich, ihre Meinung über Länder, die sie zuvor bewundert haben, nach unten zu korrigieren." Trotzdem ist ein Imagewandel wie im Beispiel der USA möglich. Die internationale Politik mag hier der stärkste Katalysator sein, aber selbst innere Veränderungen dringen irgendwann nach außen. "Wenn ein Land wie Dänemark zwanzig Jahre lang eine rechte Regierung beibehält, wird es seinen Status als bewundernswerte, liberale skandinavische Nation verlieren", ist Anholt sich sicher. "In Deutschland mag es fünf Jahre dauern, im Rest der Welt vielleicht 30."
Ein guter Ruf kann ein Land schützen, es aber auch vom Rest der Welt abschirmen. Wenn negative Entwicklungen im Ausland nicht verinnerlicht werden, weil sie nicht in dem über Jahrzehnte hinweg etablierten Bild verankert sind, werden riskante Tendenzen erst spät als solche bemerkt. Das Image eines Landes ist wie ein Bausparvertrag, in den man lange einzahlt und von dem man sich am Ende ein schönes Haus kaufen kann. Wer dagegen kontinuierlich in den Dispo geht, bekommt nach fünf bis zehn Jahren die erste Quittung. "Deutschland ist in dem Sinne ein Wunder, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in erstaunlich kurzer Zeit einen radikalen Imagewandel ins Positive vollzogen hat", sagt Anholt. Und Wunder, das weiß ein Datenanalyst wie er am besten, sind bekanntermaßen selten.