Leopold von Ranke war ergriffen. Gerade hatte der preußische Historiker, einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, sein Buch über die "Geschichte der romanischen und germanischen Völker" vollendet, als er 1825 in einem Brief an seinen Bruder Heinrich schrieb: "Ich bin gegenwärtig in einer Stimmung, mein ganzes Leben in Gottesfurcht und Historie zu verbringen." Aus einem Brief des Mediävisten Johannes Haller an seinen Freund Paul Fridolin Kehr aus dem Jahr 1903 spricht dagegen Zorn und Kränkung: Es sei eine "verletzende Zumutung, daß Sie mich in einen Hinterhalt locken und Ihrem persönlichen Befehl unterwerfen wollen". Kehr, der den Kollegen an das Historische Institut in Rom zurückholen wollte, schrieb flapsig zurück: "Sie haben Angst gekriegt, ich könnte Sie übers Ohr hauen."
Briefe als Ventile für all das, was Wissenschaftler in ihren akademischen Veröffentlichungen nicht sagen konnten - davon handelte dieser Tage eine aufschlussreiche Tagung zu "Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft" am Historischen Kolleg in München. Das Interesse der Forschung an diesen Dokumenten reicht weit: In Briefen verständigten sich Bildungsbürger über ihre Lebensführung, sie dienten der Information, dem Austausch und der Reflexion. Die Vorträge der Tagung untersuchten die Funktionen dieses geschriebenen Gesprächs mit Abwesenden: von Dankbezeugungen über die wissenschaftspolitische Einflussnahme bis zu dem Versuch, Brücken zwischen einander Entfremdeten zu schlagen.
Letzteres zeigte der Leipziger Historiker Nicolas Berg an dem mitunter verstörenden Briefwechsel Friedrich Meineckes mit seinem ehemaligen Schüler, dem im Exil lebenden, jüdischen Historiker Gustav Mayer. In diesen "First Letters", in denen Forscher, die in den 1930er-Jahren vor den Nationalsozialisten geflohen waren, wieder in Kontakt mit ihren in Deutschland verbliebenen Kollegen traten, ging es immer auch darum, sich über die Jahre 1933 bis 1945 und deren Konsequenzen zu verständigen. Für diese briefliche "Verhandlung über Zeit", wie es Berg nannte, lehnte sich der in der sogenannten inneren Emigration gebliebene kulturnationale Friedrich Meinecke an das Goethe-Zitat vom "Stirb und werde" aus dem "West-östlichen Divan" an, um mit seinem jüdischen Kollegen den Faden wieder aufzunehmen. Der Versuch misslang, und Mayer schrieb zurück: "Ich würde heute nicht mehr in eurer Mitte leben können."
Dass man mit Briefen auch das Hochschulwesen eines ganzen Staates dirigieren konnte, zeigte Stefan Rebenich. Der Berner Historiker machte deutlich, wie der "Wissenschaftsstaat" des preußischen Kultusbeamten Friedrich Althoff in der wilhelminischen Zeit von den Eigenheiten des Mediums Gebrauch machte. So traf Althoff im Briefverkehr mit einem kleinen Kreis von Experten rational und effizient weitreichende Entscheidungen. Der Preis dafür war mangelnde Transparenz und die Bevorzugung von Günstlingen.
Von Leopold von Ranke bis zur eletronischen Kommunikation hat sich die Rolle des Gelehrten stark verändert
Eine Sonderstellung nehmen Briefwechsel zwischen Historikern in der DDR ein. Wo in einer bildungsbürgerlichen Tradition Diskretion und Vertrauen wesentliche Schreibbedingungen waren, wurde im System der DDR aus der dialogischen Situation des Briefeschreibens eine "trialogische", wie Martin Sabrow zeigte. Der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam rekonstruierte den "legitimen Dritten". Dieser "Mitleser" - der mal der staatliche Leiter des jeweiligen Forschungsinstituts, mal die Staatssicherheit sein konnte - bestimmte den Gehalt der Briefe mit: gewagte Thesen oder spontane Gedanken sucht man dort vergebens.
Als Kernelement einer bestimmten Kultur spiegeln Briefe aber auch einen Wandel in deren Selbstverständnis wider. So zeichnete Gangolf Hübinger, Mitherausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe, in einem Vergleich der Briefe Leopold von Rankes und Webers nach, wie sich die Figur des Gelehrten zwischen dem frühen 19. und dem frühen 20. Jahrhundert verändert hat. Trat Ranke in den Briefen noch als "Lehrer des Menschengeschlechts" mit universalem, oft religiös imprägniertem Weltdeutungsanspruch auf, erscheint Max Weber als "Gelehrter neuen Typs"; der Soziologe schrieb nur mehr als Spezialist seines Fachs.
Heute, das zeigte sich im Laufe dreier Konferenztage in München, schreiben die Historiker kaum noch Briefe an Kollegen. Bereits seit den Sechzigerjahren sinkt die Bedeutung von brieflichem Austausch, die Alternativen Telefon, Fax - und häufige Tagungsbesuche! - wurden von da an immer wichtiger. Endgültig verdrängt wurde der Brief dann auch in der Geschichtswissenschaft von der E-Mail. Birte Meinschien, die über den jüdischen Wilhelminismus-Historiker Arnold Paucker (1921 - 2016) forscht, beschrieb, wie sich die Kommunikation seit der Jahrtausendwende verändert hat. Für die Arbeit der Historiker bringt die elektronische Wende neue Möglichkeiten - etwa, wenn ganze Briefkonvolute digital durchsucht werden können. Der Organisator der Tagung, Matthias Berg von der Berliner Humboldt-Universität, äußerte aber auch die Sorge, dass so verloren gehen könnte, was über Jahrhunderte den Reiz des Briefes ausmachte: der individuelle Charakter des einzelnen Schriftstücks.