Süddeutsche Zeitung

Geisteswissenschaften:Geist mit Gefühl

Der Informatiker David Gelernter erörtert Bewusstsein und künstliche Intelligenz in seinem Buch "Gezeiten des Geistes", mithilfe von Psychoanalyse und Literatur.

Von Bernd Graff

In den Debattenbeiträgen und Erklärstücken zur künstlichen Intelligenz (KI) und zu der Richtung, in die sie sich mutmaßlich entwickelt, werden, weil es so plastisch und plausibel klingt, Computer und Software oft in Analogie zum menschlichen Gehirn und zum Bewusstsein gesetzt. Der Geist, die menschliche Seele, sei ja auch nur Software, die auf den Hirnen, diesen natürlichen Rechen-Plattformen, installiert ist. Man spricht in Entsprechung zu Hardware und Software sogar von "Wetware". Eine These, die aus dieser Metaphorik heraus geboren wurde, lautet: Computer werden irgendwann so intelligent wie Menschen sein und sogar intelligenter. Sie werden auch Bewusstsein erlangen. David Gelernter zählt zu den Wissenschaftlern, die sich dem entgegenstellen.

Würde die erste ultraintelligente Maschine dem Menschen jede weitere Erfindung abnehmen?

Die These mit dem Bewusstsein wird damit begründet, dass Computer ja wie Hirne rechnen können, allerdings viel schneller, und auch ihre Software wird ja immer weiter verfeinert, also werden die Rechner zuerst wie Schulkinder lernen können, um sich dann irgendwann selber zu erziehen. Computer könnten sich also demnächst selber schlau und schlauer machen. Wenn Wissen Macht ist, dann wird Wissen irgendwann Computermacht werden. Und diese Macht ist mächtiger als wir. So etwa.

In dieser Überwältigungs-Dystopie taucht regelmäßig ein Begriff aus der Systemtheorie auf: Man spricht von Singularität und meint damit jenen Moment, in dem die KI sich selber so weit ertüchtigt haben wird, dass Menschen zu Sklaven dieses synthetischen Geistes werden, den sie dann eben nicht mehr geschaffen, sondern lediglich verschuldet haben.

Die Singularitätsthese ist gar nicht mal so neu. Sie entstand spätestens mit dem Aufkommen der Informatik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. So ahnte der Mathematiker John von Neumann schon 1958, dass der Fortschritt "auf eine entscheidende Singularität in der Geschichte der Menschheit hinauslaufen könnte, nach der die Lebensverhältnisse, so wie wir sie kennen, sich nicht fortsetzen könnten". Der Statistiker Irving John Good, der im Zweiten Weltkrieg zur Entschlüsselung der deutschen Rotorschlüsselmaschine Enigma beitrug, wurde 1965 deutlicher. Er sagte: "Eine ultraintelligente Maschine kann noch bessere Maschinen bauen; zweifellos würde es dann zu einer explosionsartigen Entwicklung der Intelligenz kommen, und die menschliche Intelligenz würde weit dahinter zurückbleiben. Die erste ultraintelligente Maschine ist also die letzte Erfindung, die der Mensch zu machen hat."

Vernor Vinge und Ray Kurzweil werden seit Ende der Achtzigerjahre nicht müde zu behaupten, dass " wir innerhalb von 30 Jahren über die technologischen Mittel verfügen werden, um übermenschliche Intelligenz zu schaffen. Wenig später ist die Ära der Menschen beendet"- so Ving; Kurzweil spricht von "technischem Wandel", der "so schnell und allumfassend ist, dass er einen Bruch in der Struktur der Geschichte der Menschheit darstellt". Und wenn ein Superbrain wie Stephen Hawking sagt, dass die Apokalypse nicht atomar ausfallen werde, sondern technologisch, dass wir also nicht von Krieg vernichtet werden könnten, sondern von Computern - muss man dann nicht doch Angst bekommen?

Jedenfalls ist die KI-Metapher so wirkmächtig geworden, dass Science-Fiction-Autoren und Special-Effects-Leute daran längst Gefallen gefunden haben. Können sie doch nun den Horror einer geknechteten Menschheit in Form von supersmarten Überrobotern metallisch glänzend durchs Bewegtbild von Kino und Computerspiel tapern lassen. Doch - Suggestivkraft der Bilder hin oder her - stimmt das eigentlich? Wird man irgendwann Maschinen gebaut haben, die selber zu Geist und Intelligenz gekommen sind und nun ebenso autark wie planvoll handeln? Und noch schlimmer: Wird man dann sagen müssen, dass diesen klug gewordenen Blechköpfen nun auch Rechte nach Menschart zuerteilt werden müssen, weil sie doch Bewusstsein besitzen, eine Seele gar?

Gegen diese Erlöschungsfantasien hat David Gelernter ein ebenso klug wie rhetorisch geschickt argumentierendes Buch geschrieben: "Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins." Aber es erhebt nur auf den ersten Blick einen Einwand gegen die oben skizzierte Singularitätsdebatte. Denn Gelernter argumentiert nicht gegen die Computer, sondern für den menschlichen Geist. Das ist tatsächlich ein Unterschied. Seine Argumentation kehrt die der Singularisten gewissermaßen um. Er fragt nicht: Was bedeutet die Entwicklung technischer Intelligenz für den Menschen? Sondern: Was hat die menschliche Intelligenz, was haben Menschen, das Maschinen eben nicht haben und auch nie haben können? Seine Antwort ist ganz unpathetisch: sich selber. "Nur wir wissen, was in uns selber vorgeht, das kann man nicht von außen messen."

Gelernters Erörterung, was Bewusstsein ausmacht, ist eher phänomenologischer als technologischer Art, eher Philosophie als Ingenieurskunst. Und darum war der deutsche Übersetzer nicht gut beraten, den Untertitel des Buches mit "Die Vermessung unseres Bewusstseins" anzugeben. Im amerikanischen Original heißt es : "Uncovering the Spectrum of Consciousness". Denn Gelernter geht es gerade nicht um Vermessung - also um Übersetzung des Bewusstseins in die Terminologie von Technik, sondern um Entdeckung und - um das Spektrum. Dass das Bewusstsein ein Spektrum darstellt und keinen Zustand, macht für ihn den Unterschied zwischen dem Verwenden von Sprache und ihrem Verstehen, von Zeichen und Bezeichnetem, von Text und Botschaft.

Das Bewusstsein ist kein Zustand, schreibt David Gelernter, sondern ein Spektrum

Nun kann man sagen: Ein gelehrter Vertreter der Geistes- und Sozialwissenschaften versucht sich an einer Deutung von Technik, die typisch ist für diese Fakultäten. Gab es alles schon. Doch Gelernter ist kein Geisteswissenschaftler, sondern Informatiker, Professor für Computer Science in Yale, ein Mann, der mit Apple in Patentrechtsstreitigkeiten verwickelt war, die an Forderungen die halbe Milliarde Dollar überschritten. Er ist ein streitbarer Autor und Kolumnist, etwa zu Bildungsfragen. Und er ist ein Opfer, wurde durch die Briefbombe des Una-Bombers 1993 schwer verletzt. Doch Gelernter ist weder Philosoph noch Literaturwissenschaftler, auch wenn "Gezeiten des Geistes" sich vogelwild in Philosophie und Literatur tummelt und sich dort bedient, als handele es sich um Laborberichte. Wie aber argumentiert David Gelernter denn nun mit Freud, Shakespeare, J. M. Coetzee, Wordsworth und John Searle als seinen Gewährsleuten?

Zuerst: Er rehabilitiert die Psychoanalyse. Und die Introspektion. Denn Geist ist für Gelernter eben nur als "Spektrum" zu denken, das von hochfokussierter Konzentration über Tagträumerei zu unspezifischem Träumen im Schlaf reicht. Insofern spannt sich auch das Bewusstsein von Wahrnehmung der Außenwelt und intentionaler Handlung bis zu Introspektion und den Bildern im Traum. Alle kognitiven und mentalen Prozesse - konzentrierte Gedanken, Gefühle, die Vernunft, Träume und Erinnerungen - siedeln innerhalb eines individuellen Spektrums und sind abhängig vom körperlichen und psychischen Zustand - und von der Tagesform. So wird "Geist" zu einer Funktion in und mit der Zeit: Er "ist" nicht, sondern variiert eben entlang seines Spektrums, dessen Zustände Gelernter vertikal anordnet: "Oben" erkennt er Logik und Vernunft, "unten" sieht er Erinnerung und Traum. Das - auch in den willkürlich wirkenden Korrelaten - macht für Gelernter insgesamt menschlichen Geist aus, der eben nicht nur auf die logisch-vernünftige Funktion des Hirns zu beschränken sei.

Der Mensch soll, wie William Wordsworth schrieb, wieder zum "Propheten der Natur" werden

"Gefühl", schreibt er, "ist ein ungeheuer machtvolles Medium für Zusammenfassungen, denn es kann alles zusammenfassen: Menschen, Orte, Romane, historische Epochen. Viel wichtiger ist noch, dass man mit Emotionen auch die gemeinsame Essenz von beliebigen Dingen aufdecken kann, ganz gleich, wie grundsätzlich verschieden sie zu sein scheinen. Wir können die gemeinsame Essenz eines Flugzeugträgers und einer Schüssel Haferflocken finden - vorausgesetzt, es gibt sie."

Die Perspektive, unter die David Gelernter den Geist (zurück-)bringt, entwickelt ihre Dynamik in einem Diskurs, der sich mit dem Verlauf seines Buches mehr und mehr in Richtung auf Hermeneutik, Neurologie und Psychologie, also auf Gebiete der Geisteswissenschaften bewegt. Sie drängt weg von der puren Gegenrede und der Negierung einer starken KI.

Gelernter weiß das, und darum plädiert er am Ende - trotz seiner eigenen Vorbehalte gegen die blinde Freud-Adaption - doch auch für eine Rückkehr zur Tiefenpsychologie, damit der Mensch mit William Wordsworth wieder zum "Propheten der Natur" werden und zeigen könne, "wie der Geist des Menschen tausendmal schöner wird als diese Erde, auf der er wohnt." Solange es keinen Computer gibt, der diese Wordsworth-Aufforderung versteht, ist man bereit, David Gelernters Absage an die Silikon-Intelligenz bis auf Weiteres zu folgen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2879581
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.02.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.