Geisteswissenschaften:Die Befreiung vom Sekundären

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Der Literaturwissenschaftler George Steiner, der noch an die allgemeingültige Schönheit der Kunst glaubt, wird neunzig Jahre alt.

Von Thomas Steinfeld

Zu Beginn eines Buches über "reale Gegenwart" (1990) träumt der amerikanisch-britische Gelehrte George Steiner von einer Welt, in der es zwar Kunstwerke in großer Zahl gibt, aber keine Rezensionen, keine Interpretationen und erst recht keine akademischen Disziplinen, die sich in einem unendlichen "Gerede" über die höhere Bedeutung dieses oder jenes Werks verständigten. Alles, was es gäbe, wären die praktischen Dienste am Text, wie sie mit einer Philologie im strengen Sinne verbunden ist. Darüber hinaus herrschte eine Art frommen Schweigens, angesichts einer "durchdringenden Autorität, an die jene von außen gebotenen, jene von den nicht-schöpferischen Geistern, das heißt von den Rezensenten, Kritikern, Akademikern vorgetragenen Urteile selten heranreichen". George Steiner, selbst Kritiker, Essayist und Professor der Literaturwissenschaft an den Universitäten Cambridge, Genf, Oxford und Harvard, empfände die Abwesenheit des "Sekundären" als Befreiung, wohl wissend, dass sie ein in sich widersprüchliches Unternehmen wäre: Denn wie etwa sollte man die wichtigen von den unwichtigen Werken unterscheiden, wenn es dafür kein begriffliches Denken gäbe?

Steiner, als Kind österreichischer Eltern 1929 in Paris geboren, in New York aufgewachsen und seit Jahrzehnten hauptsächlich in Großbritannien lebend, ist einer der letzten Vertreter eines radikalen Bürgertums, das tatsächlich an das erhaben Sinnhafte von Kunst glaubt - an eine Autonomie des Ästhetischen jenseits aller historischen Ableitungen und philosophischen Zuordnungen, vor allem aber an eine Kunst, die keine Institutionen (Museen, Festivals, Kuratoren, Konferenzen, Rankings) braucht, um als etwas Verehrungswürdiges zu gelten. Es entsteht so, notwendig, ein Paradox: etwas unbegrifflich Begriffliches, in dem die höchste Möglichkeit des Lebens verborgen sein soll. Und wenn man dieses Paradox einem größeren Publikum vermitteln will, so wie es George Steiner sein ganzes Leben lang tat, in unzähligen Rezensionen und Essays, in zwei Dutzend Büchern, so fordert die Widersprüchlichkeit des Unternehmens ihren Preis: in Gestalt einer Vagheit der Bestimmungen, in Form einer Sprache, die sich an ihre Gegenstände anzuschmiegen sucht, zuletzt auch eines Irrationalismus, der sich, eben weil er höchste Prinzipien zu verfechten meint, unangreifbar wähnt: "Die unbestimmte Macht der Bücher ist unberechenbar", heißt es in Steiners Buch "Die Logokraten" (2009), "sie ist eben deshalb unbestimmt, weil dasselbe Buch, weil dieselbe Buchseite auf den Leser absolut unterschiedliche Wirkungen ausüben kann."

Wollte man mit George Steiner tun, was er mit Kunstwerken nicht tun will, ihn nämlich einer historischen Ableitung unterwerfen, müsste man sagen, dass in ihm, einmal noch, eine jüdische Bildungselite Gestalt annimmt, die im Dritten Reich vom europäischen Kontinent vertrieben wurde, um dann noch eine Weile durch die Welt zu irren. Für diese Elite existiert ein künstlerischer Kanon, wie er sich im 18. Jahrhundert etablierte und im 19. Jahrhundert zum Ausweis eines Weltbürgertums wurde. In George Steiners Büchern tritt er auf, in heute unnachahmlicher Vollständigkeit: in Gestalt von "Tolstoi oder Dostojewski" (1959), der griechischen Antike ("Der Tod der Tragödie", 1961), von William Shakespeare ("Der Garten des Archimedes", 1996) oder von Doktor Faustus ("Der Meister und seine Schüler", 2003). Oft tauchen diese Heldengestalten der bürgerlichen Bildung in Gruppen auf, zuweilen sogar in nur einem Satz: "Flauberts kompromisslose ,maîtrise' war die anerkannte Ikone in den Tutorien, die Ezra Pound (...) T.S. Eliot gab und die Hemingway (...) von Gertrude Stein zuteil wurden."

Etwas entschlossen Elitäres wird man diesem Anspruch auf Bildung nicht absprechen können. Zugleich aber erscheint dieses Elitäre, indem es sich offen gegen alle Reduktionen der Kunst auf Politisches oder Psychologisches wehrt, als letztes Aufscheinen einer allgemeingültigen Schönheit, die es für die Bewohner eines modernen, mehr oder minder unverstandenen und diffus bedrohlichen Alltags nicht gibt.

Der Respekt, ja die Bewunderung, die George Steiner genießt, in den angelsächsischen Ländern, in Frankreich und vor allem in Deutschland - im Jahr 2003 erhielt er den Börne-Preis -, hat mit dem Späten und dem Aristokratischen in George Steiner zu tun. Wenn er über Literatur spricht, sind der Fleiß und die Mühen verschwunden, die auch zur intellektuellen Arbeit gehören. Dann bewegt sich jemand scheinbar völlig frei auf einem Terrain, das den ganzen und halben Laien im Publikum als unendlich groß und unübersichtlich erscheint. An diesem Dienstag wird George Steiner, ein Weiser, in dem die abendländische Bildungstradition noch einmal leibhaftige Gestalt angenommen zu haben scheint, neunzig Jahre alt.

© SZ vom 23.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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