Süddeutsche Zeitung

"Geisterstunde":Jenseits der Denkbremse

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In den Essays der Berliner Schriftstelllerin Sibylle Lewitscharoff über Literatur und Kunst zeigt sich: Zum offenen, assoziativen Denken gehören auch die Momente der Unbedachtheit

Von Thomas Steinfeld

Das Lesen ist nur eine unter vielen Tätigkeiten, die den Verstand und die Fantasie des Lesers beschäftigen, während er das Buch in der Hand hält und seine Augen vermeintlich den einen langen Faden der Sätze festhalten und verfolgen. Das gilt vor allem für das Lesen "schöner" Literatur. Oft hält der Leser inne, um einem Gedanken oder einer Assoziation nachzuhängen. Dann schweift er ab, oder es fällt ihm etwas anderes ein. Manchmal überlegt er sich, was diese Szene oder jene Formulierung wohl bedeuten mag. Oder er kommt ins Grübeln. Gelegentlich guckt er dumm in die Luft. Nicht ein Faden ist es, der dem Lesen die Bewegung und die Richtung vorgibt, sondern es sind viele Fäden, manche kurz und manche lang, manche verknüpft und etliche lose in der Gegend herumhängend. Lesen ist eine Tätigkeit, die den Lesenden meistens allein beschäftigt, und wahrlich: Man hat mit diesen Fäden viel zu tun. Mitunter aber ist es eine Freude und ein Gewinn, diese Vielfalt vor anderen Menschen auszubreiten und womöglich ein Gespräch darüber zu beginnen.

Die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ist eine Lesende, die nicht nur viele solcher Fäden spinnen, sondern sich auch innig mit ihnen beschäftigen kann. Dieses Nachdenken beim und über das Lesen hat sie nun zum Gegenstand eines Buches gemacht, das den Titel "Geisterstunde" trägt. Äußerlich betrachtet, handelt es sich dabei um eine Sammlung von Essays und vor allem Vorträgen, von Gelegenheitsarbeiten also. In der Substanz aber geht es um Bedeutenderes: Sibylle Lewitscharoff versucht in diesen Texten, einen Lesekreis zu gründen. Sie will, ganz offenbar, andere Lesende um sich versammeln, um mit ihnen ein Gespräch über Literatur zu beginnen.

Dieses Denken ist weder Kritik noch Philologie, es ist eine Einladung zur Widerrede

Die Anreden, in denen die Schriftstellerin um die Aufmerksamkeit der Zuhörer bittet, sind hier keine Floskeln. Sie sind Versuche, eine lebendige Verbindung zwischen einem (gewiss vor allem: bürgerlichen) Publikum und einer literarischen Intelligenz herzustellen, wie sie nach der Entstehung einer standardisierten Unterhaltungskultur um die vorvorige Jahrhundertwende zu etwas Seltenem und Kostbarem geworden ist - und zwar keineswegs nur wegen der Ausbreitung der populären Kultur, sondern auch, weil zugleich die vermeintlich hohe Kultur auf einen Sockel gehoben wurde.

Das Disparate, das diesen Texten zueignet, verdankt sich der Fadenwirtschaft, so wie sie sich vor, bei und nach dem Lesen entspinnt. Sibylle Lewitscharoff denkt über Fotoporträts von Schriftstellern nach, die ihr bei Hermann Hesse ("Schriftstellerposeur") gefallen, bei Uwe Johnson in Lederjacke ("Kampfgähnen" auslösend) jedoch nicht. Sie reflektiert über die prächtig weiße Haartracht Stefan Georges und über Romane, in denen man "wie in Hausschuhen herumlaufen kann". Sie begeistert sich so sehr für Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway", dass sie ihr eine Sprachgirlande im Stil des Vorbilds widmet.

Aus solchermaßen umherschweifenden Gedanken entsteht keine Kritik, denn diese hätte das Gelesene zu analysieren. Es geht auch keine Philologie daraus hervor, denn diese hätte das Gelesene zu schützen und zu bewahren. Stattdessen wird über Fragen nachgedacht, die in der Literatur gestellt werden, die aber das Leben angehen, und zwar stets so, dass sich der Leser zum Weitermachen und Gegenreden eingeladen sieht.

Diese Fragen sind oft einfach. Sie befassen sich etwa damit, welche Rolle das sorgfältige Aussprechen von Konsonanten bei einer Aufführung des "Don Karlos" spielt. Oder warum der Tod im Schnee allen anderen Arten des Sterbens vorzuziehen sei, dargelegt am Beispiel Robert Walsers. Oder warum Sonderlinge, die auf ihrer Sonderbarkeit bestehen, so unerträgliche Gestalten sind, während man Franz Kafka als Autor auch deshalb so bewundern kann, weil er zwar ein Sonderling ist, eigentlich aber ein "würziger, lebenstüchtiger Mensch" sein will, woraufhin er dem eigenen Sonderlings-Charakter auf den Grund zu gehen trachtet. Immer wieder erinnert sich Sibylle Lewitscharoff dabei an ihre eigene Laufbahn als Lesende, vom büchersüchtigen Kind bis zur einer "abgebrühten Leserin", auf dem Umweg über diverse Anfälle von "brutaler Selbstgerechtigkeit".

Sprache ist nicht nur Ausdruck, sondern Organ des Denkens

Und so flattert der lesende Geist von der Frage, welches Auto einem Schriftsteller vom Schlage des amerikanischen Autors Walker Percy angemessen sei (ein kleiner britischer Sportwagen von MG), bis zur Behandlung des Problems, warum das Nibelungenlied nicht zum Beziehungsdrama taugt (einschließlich einiger Belehrungen darüber, was Standesgrenzen wirklich sind). Vorausgesetzt ist dabei stets, dass es sich beim Stoff dieser Reflexionen um Literatur handelt, also um etwas Erfundenes, dass gerade deswegen aber die Implikationen für das praktische Leben unendlich groß sein können. Die Dichtung dient hier als Medium für das Nachspielen fremder Gestalten, und wenn darin nicht nur ein ästhetisches Vergnügen, sondern auch ein Gewinn an Erkenntnis liegt, dann der, dass dem Leser erkennbar Wirkliches als Erfundenes entgegentritt: Was daraus entsteht, ist eine Art gebundener, durch Wissen erleuchteter Freiheit, wie sie nur in Gestalt von Literatur zu haben ist.

Sibylle Lewitscharoff setzt sich in diesen Aufsätzen ausschließlich mit mehr oder minder kanonischen Werken auseinander, ein Ausflug in die Lebensgeschichte des etwas verwilderten schwäbischen Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart inbegriffen. Doch so verehrungswürdig diese Werke sein mögen, so leicht geht Sibylle Lewitscharoff mit ihnen um, in einer ihrerseits literarischen Sprache voller Überraschungen, zu denen manchmal auch der Dialekt und unreine Stilmischungen gehören: Da gehen die Gedanken auf dem "Hühnerpfad des Nacheinander", da gibt es "schmerbäuchige" Ideen, und wenn Körper aus dem Leim gehen, dann "strudeln" sie.

Umgekehrt erfreut sich Lewitscharoff an gelungenen Formulierungen anderer Autoren, bei Hermann Hesse zum Beispiel, der über einen erwachsenen Mann sagt, dieser sei wie ein Kind, "das mit Freude in seine Jahrmarktstrompete faucht". Oder bei Jean Paul, wenn er von der "Fledermausmaske" der Lustigkeit spricht. Dass Sprache nicht nur Ausdruck, sondern auch das Organ des Denkens ist, davon hat Sibylle Lewitscharoff eine deutliche Vorstellung.

Von Arno Schmidt gibt es einen kurzen Vortrag aus dem Jahr 1957, der den Titel trägt: "Was bedeutet ,Konformismus' in der Literatur heute?" Darin erklärt er, dass Konformismus nicht aus totalitären Verhältnissen hervorgehe, sondern zu einem verfallenden Bürgertum gehöre. Konformismus, sagte er, entstehe in Akten freiwilliger Anpassung, in Verhältnissen, die eigentlich als freizügig begriffen würden.

Sibylle Lewitscharoff sorgt mit öffentlichen Reden gelegentlich für Eklats, so in Dresden im März 2014, als sie sich gegen die Praxis der Leihmutterschaft wandte. Solche Skandale fangen mit unbedachten Sätzen an, die sie nachher bedauert: mit "einer Denkbremse, die einrastet, wenn sie bei flotter Fahrt beansprucht wird. Schleuderkurs, Crash, nichts geht mehr". Nach der Lektüre ihrer Aufsätze zur Literatur versteht man besser, wie es zu solchen "Denkbremsen" kommt: Sie beginnt um sich zu schlagen, wenn ihr der Druck zum Konformismus zu groß zu werden scheint. In der "Geisterstunde" lässt sich nachlesen, dass solche Auftritte nur die andere, ungleich kleinere Seite eines großen Freisinns sind.

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SZ vom 07.08.2019
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