Geiger David Garrett:Von der Tragik eines ehemaligen Wunderknaben

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Die Wege großer musikalischer Begabungen können im Himmel oder in der Hölle enden. David Garrett ist ein besonders schrilles Beispiel für einen genialischen Geiger, der trotzdem scheitert. Erst war er Virtuose, dann Popstar - nun sehnt er sich nach der Klassik. Bislang nutzt ihm auch das nichts.

Harald Eggebrecht

Um es gleich zu sagen: David Garrett, der Crossover-Violinist, dessen Alben es bis an die Spitze der Pop-Charts schaffen, kann sehr gut Geige spielen. Es klingt sauber, präzise und durchaus geschmeidig, technisch grosso modo untadelig.

Dem Himmel so nah. Und auch den dunklen Wolken. (Foto: www.david-garrett.com)

Nur: ein Instrument perfekt zu beherrschen, heißt keineswegs auch, ein Musiker von Rang und Originalität zu sein, gar ein schöpferischer Geist, der das Altbekannte, in diesem Fall Beethovens Violinkonzert, so spielt, als wäre es in diesem Moment entstanden, und Neues mit kreativer, unstillbarer Neugier entdeckt. Selbstverständlich wäre es schön, wenn höchste technische Vollkommenheit und größtmögliche Kreativität und Geistestiefe in ein und demselben Musiker versammelt wären.

Glücklicherweise hat es das im Zuge der Musikgeschichte immer wieder Bewunderung erregend gegeben. Man denke nur an Niccolò Paganini, den Geiger aller Geiger.

Nun gibt es bei David Garrett aber eine Vorgeschichte, in der Tragik steckt. Er begann nämlich als Wunderknabe, dessen Phrasierungsintuition, Klangfarbenspektrum, Tonqualität so auffallend und einzigartig waren, dass sich große Musiker um diesen höchst begabten Jungen rissen: Ida Haendel unterrichtete ihn, Zubin Mehta präsentierte ihn als Solisten bei den wichtigsten Orchestern, die Deutsche Grammophon machte Aufnahmen.

Garrett war damals das männliche Pedant zu den Violinprinzessinnen, er war der Geigenprinz. Wie außergewöhnlich das Talent war, lässt sich (für die, die ihn damals nicht im Konzert erlebt haben) bei YouTube noch studieren: Da spielt der Dreizehnjährige 1994 Mozarts G-Dur Konzert KV 216 so flexibel im Ton, so geschmeidig im Rhythmischen und befeuert von Mozarts Einfallsreichtum, dass sich dagegen mancher alte Star brav und konventionell anhört.

Doch dann, Garrett hat es mehrmals erzählt, gab es in der Pubertät einen Knick, jene Phase, die schon so manche Wunderkindkarriere beendet hat. Garrett entzog sich seinem gewohnten Umfeld, von dem er sich fremdbestimmt fühlte. Er wollte sich selbst finden und ging nach New York, studierte bei Itzhak Perlman an der Juilliard School, lernte neben Musikstudenten auch Schauspieler, Tänzer kennen, und spielte für sie Musik aller möglichen Art. Es machte ihm solchen Spaß, dass er als Crossover-Musiker auf die Podien zurückkehrte. Seitdem spielt er Rock und Pop, Filmmusik und Zugaben auf nette, ungefährliche, doch sehr erfolgreiche Weise, verleugnet auch seine "klassischen" Wurzeln nicht und gibt ab und an einen Sonatenabend oder wirft sich auch mal in die Schlacht eines großen Violinkonzertes.

Wie gesagt, Geigen kann Garrett, er übt täglich bis zu vier Stunden: "Ich möchte nicht morgen dastehen und schwächer spielen als heute." Das klingt nach Disziplin und nach einem Bewusstsein davon, was er treibt.

Doch das genialische Gespür des Jungen für den Aufbau, den Spannungsbogen eines Satzes, seine Variabilität und Spontaneität in der Ton- und Klangfarbenbildung aus dem Geist der gerade gespielten Musik heraus, Gestaltungskraft und musikalische Dringlichkeit sind verschwunden in der Häppchenkultur der Arrangements der Hits, Titelmelodien, Songs und Encores.

Heute klingt Garretts Spiel farblos und nuancenarm, als ob das viele Spielen mit elektroakustischer Verstärkung seinen Sinn für die in der klassischen Musik so entscheidende Kunst höchstmöglicher, reaktionsschneller Klangdifferenzierung vergröbert, ja, vertrieben hätte.

Garrett scheint ein Schicksal ereilt zu haben, das auf genau umgekehrte Weise das Klassik-Wunderkind des 20. Jahrhunderts erlitt: Yehudi Menuhin. Bei Menuhin war es das geigerische Handwerkszeug, das zunehmend Probleme bereitete, weil man ihn in seiner Knabenzeit zu wenig mit den Grundlagen des Violinspiels vertraut gemacht hatte.

Menuhin hat die Kollision mit dieser Realität in einer denkwürdigen Begegnung geschildert, als er als Knabe dem großen belgischen Virtuosen Eugène Ysaye Lalos "Symphonie espagnole" vorspielte. Ysaye nahm die Leistung des Jungen vor den erwartungsfrohen Eltern gelassen zur Kenntnis und sagte dann, Yehudi solle doch einmal einen G-Dur-Dreiklang durch vier Oktaven spielen. Der Junge konnte es nicht, worauf der Meister riet, er solle dringend Tonleitern, Dreiklänge, Arpeggien und all das üben, um sein geigerische Basis zu festigen.

Menuhin hat zeitlebens immer wieder an dieser Basis arbeiten müssen, mehr als andere. Doch sein Geist blieb originell und kreativ, auch wenn seine Konzerte manchmal unter den geigerischen Problemen litten.

Menuhin hat sich vielfältig mit Musik beschäftigt, hat mit dem großen Jazzgeiger Stéphane Grappelli musiziert, sich mit dem Sitarspieler Ravi Shankar getroffen, mit Zigeunerbands gespielt. Und er hat eine Gruppe junger Geiger wie etwa den Franzosen Gilles Apap, den Deutschen Volker Biesenbender oder den Engländer Nigel Kennedy mit dieser Neugier und Experimentierlust stark beeinflusst.

Dass Virtuosen immer auch dem Varieté-Zauber nahe sind, ist nicht nur aus Paganinis und Ole Bulls Tagen bekannt. Der hochbetagte, grandiose Ivry Gitlis, Jahrgang 1922, zum Beispiel hat Musik in jeder Richtung gesucht und gemacht, er spielte mit John Lennon und den Rolling Stones, improvisierte mit Grappelli und Angelo Branduardi.

Bei seinem legendären Festival in Vence in den siebziger und achtziger Jahren traten Jazzer wie Dizzy Gillespie auf, Sänger und Musiker aller Couleur, und Gitlis war immer mittendrin, spiritus rector und Mitspieler in einem. Er schauspielerte in Filmen von François Truffaut oder geigte mit japanischen No-Sängern beim Progetto Martha Argerich in Lugano. Aber: Gitlis ist bis heute ein Wunder, er scheut kein Risiko und musiziert eindrucksvoll inspiriert aus dem Augenblick heraus.

Nigel Kennedy, mit 55 fast eine Generation älter als Garrett, hat sich neben seiner Beschäftigung mit klassischer Musik auch Jimi-Hendrix-Arrangements gewidmet und als Jazz- und Rockgeiger Erfolg im Punk-Outfit. Doch er begann als expressionistischer, ausdrucksbesessener Musiker mit den großen Violinkonzerten. Erst mit dem Welterfolg seiner Einspielung der "Jahreszeiten" von Vivaldi wurde man auch auf seine Aktivitäten in Sachen Rock und Pop aufmerksam.

Mag Kennedy inzwischen manchmal geigerisch schlampen, mögen seine Rock-Trips mehr als skeptisch beurteilt werden - wenn er sich konzentriert und violinistisch und musikalisch diszipliniert, kann er weiterhin ein ausdrucksstarker, origineller Musiker sein. Ganz anders als Vanessa Mae, die vor Garrett als Violinfee im nassen T-Shirt Furore machte, aber nur eine durchschnittliche Geigerin ist. Jenseits ihrer Attraktivität und Entertainment-Qualitäten hat sie musikalisch weder im Pop noch im klassischen Bereich etwas zu bieten.

Wenn Garrett nun Beethovens Violinkonzert (mit dem Royal Philharmonic unter Ion Marin) eingespielt hat, geigerisch gut, musikalisch nichtssagend, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Es sei denn, dass es gerade von diesem Stück viele Aufnahmen gibt - darunter solche, die zu den Inkunabeln der Plattengeschichte gehören.

Unwillkürlich denkt man bei Garrett an Beethovens Ausspruch zum Geiger Schuppanzigh: "Was geht mich seine elende Geige an, wenn mich der Geist überkommt." Es ist wohl die kantenlose Harmlosigkeit seines Spiels - gepaart mit Liebenswürdigkeit und einer sympathisch jungenhaften Erscheinung -, die Garretts Erfolg sichert.

Wer sich der gloriosen Wunderknabenanfänge wehmütig erinnert, der wird die Entwicklung zum allgefälligen Popstar bedauern. Aber vielleicht vermag David Garrett ja ein weiteres Mal heilsam zu verschwinden, um dann als geläuterter Violinphoenix aufzusteigen, der seine ursprünglichen kreativen Energien wieder gefunden hat.

© SZ vom 18.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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