Gehört, gelesen, zitiert: Fortschritt als Walze

Nur der Individualismus sei heute noch unantastbar, schreibt die französische Philosophin Chantal Delsol im "Figaro". Ihre Vermutung: Das wird nicht gut ausgehen.

Ganz so selbstverständlich, wie der Philosoph Ernst Bloch in seinen "Differenzierungen im Begriff Fortschritt" im Jahr 1956 noch meinte, strahlt der Begriff nicht mehr. Die französische Philosophin Chantal Delsol sieht "Fortschritt" eher als eine Dampfwalze, die unaufhaltsam alles niederrollt, was sich ihm an Bedenken und Einwänden entgegenstellt. Nach dem Ehevertrag für gleichgeschlechtliche Paare, der vollwertigen Ehe für alle und nun dem im französischen Parlament gerade verabschiedeten Recht auf künstliche Eizellenbefruchtung für alle Frauen, ob alleinstehend oder in lesbischer Paarbeziehung, schreibt sie, werde im Namen der individuellen Freiheit und Gleichstellung natürlich bald der nächste Schritt folgen: die allgemeine Legalisierung der Leihmutterschaft für schwule Männerpaare und irgendwann auch jene der Erbgutselektion bei der In-Vitro-Eizellenbefruchtung. Gern würde man wissen, wo das hinführt, notiert die Philosophin des konservativen Lagers, die in Frankreich gerade das Buch "Demokratie im Gegenwind" mitherausgegeben hat. In einem Beitrag für die Zeitung "Figaro" äußert sie ihre Vermutungen.

In Trumps Amerika, fügt sie am Ende hinzu, habe diese Entwicklung schon begonnen.

"Die westliche Moderne will die individuelle Freiheit, und sie will sie ganz, ohne jede Einschränkung, außer jener, dass meine Freiheit dort aufhört, wo jene des Anderen beginnt. Die individuelle Freiheit fühlt sich weder an eine übergeordnete Verantwortung noch an Grenzen anthropologischer, politischer, ökonomischer oder familiärer Natur gebunden. Sie flattert bedenkenlos bis an die vom Nachbarn gesetzte Grenze und stellt sich keine weiteren Fragen. Enden wird das wohl in einem Überdruss an diesem Exzess - einer Übersättigung, die selbst die leidenschaftlichsten Anhänger der individuellen Freiheit erfassen wird. Und eines Tages, wenn schon viel Schaden angerichtet sein wird und wertvolle Dinge endgültig verloren sind, werden wir wahrscheinlich angewidert dastehen vor dem Tanz ums Goldene Kalb des Individuums und dem Verschwinden des schlichten Menschenverstands".