Süddeutsche Zeitung

Gegenwartsphilosophie:Substanz und Entfremdung

Lesezeit: 3 min

In seinem neuen Buch "Weniger als nichts" erkundet der slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek die unerträgliche Dichte des Hegel'schen Denkens.

Von Fritz Göttler

Dies ist ein praktisches Buch, trotz seiner gewaltigen Länge. 1400 Seiten voller nützlicher Definitionen, Korrekturen, Kontextualisierungen, Rezepturen. "Vielleicht bräuchten die Kritiker der Hegelschen Gefräßigkeit ja ein gutes Abführmittel", heißt es mittendrin, "Hegel ist nicht der unersättliche Subjektivist, als der er dargestellt wird . . .". Das Buch entschlackt, ein für allemal, es reißt das Gestrüpp um Hegels Dialektik auf und die Deutungen, die es erfahren hat. Dabei ist Hegel nur Frontmann einer Phase der Philosophie, die Slavoj Žižek noch einmal mit aller Begeisterung ins Bewusstsein zurückbringen will, den deutschen Idealismus. "Die Grundkoordinaten jener Zeit, der unerträglichen Dichte des Denkens liefert die Mutter aller Viererbanden: Kant, Fichte, Schelling, Hegel."

Kein "Complete Idiot's Guide to Hegel" also, stellt Žižek zu Beginn klar, in Bezug auf seine Filme "The Pervert's Guide to Cinema" und "The Pervert's Guide to ideology". Perversion und Imbezillität sind wesentliche Begriffe im Selbstverständnis von Žižek, sie halten sein Denken, seine Argumentation offen. Auch seine Bücher sind Performances, zusammen ergeben sie eine einzige große Performance. Es steckt viel in dem Hegel-Buch, was man aus früheren Žižeks kennt, er scheut sich nicht, den Blick zurückzuwenden, Rekurrenz ist sein Prinzip (und ist auch Hegels Prinzip gewesen).

"Weniger als nichts" ist ein Buch der Strömungen und Gegenströmungen, der Flüsse, Nebenflüsse, Rinnsale. Am schönsten ist es, wenn plötzlich kleine Wirbel entstehen und die Bewegung ins Trudeln und Kreiseln bringen, irritierend, schwindelerregend, atemlos. Geschichte ist keine eindeutige, lineare Bewegung, ist nicht progressiv, auch die Denkgeschichte nicht. Jacques Lacan hat im 20. Jahrhundert Hegel "wiederholt", deshalb ist ihm ein wesentlicher Teil dieses Buchs gewidmet. Žižek steht schwer in beider Schuld, danach kommen gleich Chesterton, Hitchcock und Heidegger, der, gegen den Strich gelesen, ein dem Kommunismus nahes Potenzial enthält. Und zum Schluss startet Žižek einen ersten Versuch, die Teilchenphysik mit Philosophie und Psychoanalyse zusammenzubringen. "Die seltsame Logik dessen, was Freud den Trieb nannte, kommt perfekt in der Hypothese des ,Higgs'-Feldes zum Ausdruck."

Das Buch ist ein unermüdlicher, in seiner Unermüdlichkeit auch tautologischer, manchmal verzweifelter Versuch, Hegel vor der Simplifizierung durch die Exegeten zu retten, die Dialektik von Geist und Materie, Idealismus und Materialismus, Subjekt und Substanz produktiv zu halten, das Subjekt vor dem Solipsismus zu bewahren: "Das Subjekt muss in seiner Entfremdung von der Substanz die Entfremdung der Substanz von sich selbst erkennen."

Lacan hat in seiner kühnen Konzeption des psychischen Apparats und seiner gesellschaftlichen Bedingtheit das Wirkliche und Materielle neu definiert, und Žižek tut alles, damit die Diskussion nicht wieder dahinter zurückfällt. Wahrheit und Fiktion, Virtualität und (Selbst-)Täuschung stehen in der modernen Gesellschaft in komplexer Interaktion, die nicht eindeutig moralisch zu werten wäre. "Im Grunde ist das Reale die Nichtidentität selbst . . . Das Reale ist kein Hindernis oder Eindringling von außen, das oder der verhindert, dass X mit sich selbst identisch werden kann, sondern die absolut immanente Unmöglichkeit dieser Identität."

Hegel sah nicht den spekulativen Aspekt des Kapitalismus

In Žižeks letzten Büchern ist die Politik stärker in den Vordergrund gerutscht, zuletzt in "Die bösen Geister des himmlischen Bereichs", über den "linken Kampf um das 21. Jahrhundert". Auch "Weniger als nichts" liefert den Hintergrund, auf dem Žižeks Interventionen zu aktuellen Entwicklungen - Islamismus, Occupy, Varoufakis - mehr sind als Provokation und Klamauk. Heute ist evident, weshalb Hegel die Logik des Kapitalismus nicht klären konnte: "Was Hegel nicht erkennen konnte, war nicht irgendeine nachhegelianische Wirklichkeit, sondern vielmehr der eigentlich hegelianische Aspekt der kapitalistischen Wirtschaft. In diesem Punkt war Hegel paradoxerweise nicht idealistisch genug, denn was er nicht sah, war der durchweg spekulative Inhalt der kapitalistischen Wirtschaft, die Wirkungsweise des Finanzkapitals, als eine rein virtuelle Idee, die ,reale' Menschen beeinflusst." Und plötzlich ist Hegel ganz modern, ganz aktuell: " Strukturell befindet sich der Kapitalismus immer in der Krise - weswegen er unaufhörlich expandiert."

Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus. Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 1408S., 49,95 Euro. E-Book 43,99 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2481926
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.05.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.