Süddeutsche Zeitung

Gegenwartslyrik:Totenlieder der Fliegen

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Hätte man meinen können, Michael Krüger würde nach dem Ende seiner Tätigkeit als Hanser-Verleger mehr und länger schreiben, so ist das Gegenteil eingetreten. Das zeigt Krügers wunderbarer, neuer Gedichtband "Einmal einfach".

Von Tobias Lehmkuhl

Einmal einfach - das ist einer jener Sätze, die Michael Krüger, ein Stammgast am Fahrkartenschalter, sicher häufiger im Munde führt als andere Menschen, beständig unterwegs zwischen München und Berlin, zwischen Hannover und Wien. Über diese rege Reisetätigkeit ist Krüger zu einem der eminentesten Vertreter jener Gattung der Poesie geworden, die man in aller Wertschätzung Eisenbahnlyrik nennen darf. Ja, mit Krügers Zuggedichten könnte man inzwischen wohl einen ganzen Band füllen.

Einmal einfach, damit ist aber auch die Lebensreise gemeint, jene Einbahnstraße namens Vergänglichkeit. Nicht selten fallen für Krüger diese beiden Reisen freilich in eins: "Der Zug hielt an, wir mußten warten/ bis auf dem Gegengleis der Tod vorbeifuhr" heißt es etwa in seinem neuen Gedichtband. Aber auch in seinem letzten Band, "Umstellung der Zeit" von 2013, finden sich Zeilen, nach denen man das nächste Mal mit etwas mulmigem Gefühl die Bahn benutzen wird: "Dann fährt der Zug wieder an, die Toten/ unter der Trasse beginnen zu kreischen."

Einmal einfach, um einen weiteren Aspekt zu erwähnen, der sich beim Titel des neuen Bandes Michael Krügers aufdrängt, "Einmal einfach" stellt zugleich auch eine Art poetologischer Aufforderung dar. Einfach zu schreiben, nicht experimentell, konzeptuell, in irgendeiner Form avantgardistisch. Das heißt nicht, das der Dichter Krüger, jahrzehntelang auch ein wichtiger Verleger zeitgenössischer Poesie, die Avantgarden nicht zur Kenntnis genommen hätte, dass er nicht wüsste, was Sprachspiel oder Sprachkritik sind, was es heißt, an der Form zu arbeiten.

Gleichwohl sind für Krügers eigenes Schreiben Peter Huchel oder Günter Eich wichtiger als Welimir Chlebnikow oder Konrad Bayer. Wobei es müßig ist, Krüger überhaupt auf Vorbilder festlegen zu wollen, er selbst nennt in "Einmal einfach" gar keine Namen und enthält sich aller Zitathuberei. Stattdessen empfiehlt er als Vorbilder die Bienen: "Bitte, nehmt euch ein Beispiel/ an den Bienen (...) Die Bienen/ übersetzen, und der Wind, der ums Haus/ geht wie ein Dieb, sammelt ein/ und macht einen Vers draus,/ den wir nur nachsprechen müssen."

Die Natur spielt in Krügers Lyrik mit den Jahren eine immer größere Rolle, der Apfelbaum im Garten, die Vögel, der Schnee und die Wolken. "Sieh, wie der Weißdorn sich aufdrängt!" heißt es einmal. Dass die Natur bei Krüger eine solche Präsenz entfaltet, mag daran liegen, dass für den Dichter im Alter die Erinnerung an die Kindheit eine immer größere Rolle spielt, die ersten Jahre im sachsen-anhaltinischen Wittgendorf bei den Großeltern, die zwar keine Bücher besaßen, aber jeden Halm zu benennen wussten.

So liest man auch vom Wunsch, "noch einmal den Wiesenkümmel zu riechen", was ja durchaus möglich wäre, würde sich in diesem doch ganz "einfachen" Wunsch nicht eben auch eine zweite, unmöglich zu erfüllende Sehnsucht verbergen: Für die einmal gelöste Fahrt nachträglich noch ein Retourbillet zu erhalten, noch einmal in die geborgene Welt der frühen Kindheit zurückzukehren, in die Zeit, bevor man als Sechsjähriger ins zertrümmerte Berlin versetzt wurde. Ein Lebensbruch, der noch siebzig Jahre später ein Fremdheitsgefühl auszulösen vermag: "Ich soll hier aufgewachsen sein", heißt es skeptisch in "Nikolassee, Februar 2015".

Einmal einfach: Man könnte meinen, dass Michael Krügers neuer Gedichtband ein Buch der Trauer und der Todesahnung ist. Das ist er auch. Seltsamerweise aber ist er zugleich ein großes Buch des Trostes. Liest man etwa die Gedichte "Rätsel" oder "Der Nußbaum, die Zeit", dann bezweifelt man den Satz, dass im Sterben jeder alleine sei. Betrachtet man das Leben als eine langsame, aber stetige Bewegung des Vergehens, so fühlt man sich bei der Lektüre von "Einmal einfach" deutlich weniger einsam.

Aber zugleich warnt Krüger davor, dem Trost in die Arme zu laufen. Er erinnert an die "Totenlieder der Fliegen", an die "gefräßige Zeit, die alles an sich reißt". Und doch findet er bei seinen Fahrten in und durch die Städte so treffende wie komische Bilder, Bilder, die die fürchterliche Zeit nicht so schnell zernagen wird: "Schrebergärten kriechen um die Städte herum wie Schnecken", heißt es im Titelgedicht. Anderswo ist die Rede von der "geschwätzigen Mafia der Spatzen", vor der man sich fürderhin ein wenig mehr in Acht nehmen wird.

Einen Hinweis gibt Krüger freilich doch, in welcher Tradition seine Gedichte stehen. Gleich zu Beginn von "Einmal einfach" steht als Motto der von Eckermann notierte Ausspruch Goethes, alle seine Gedichte seien Gelegenheitsgedichte. Das sind auch die Krügerschen. Aus dem Augenblick geboren, häufig mit Datum versehen, lyrische Fundstücke eines Weltreisenden, der in Skopje die Kohlweißlinge grüßt und in Warschau Zbigniew Herberts Stuhl probesitzt.

Es sind Gelegenheitsgedichte auch in ihrer Kürze. Hätte man meinen können, Krüger würde nach dem Ende seiner Tätigkeit als Verleger mehr und länger schreiben, so ist das Gegenteil eingetreten. Keines seiner neuen Gedichte ist länger als eine Seite, vielen ist gar etwas haikuhaftes eigen, ohne dass Krüger es nötig hätte, eigens ein Haiku zu schreiben. Es steckt eine Souveränität in seinen Versen, die man fraglos dem Alter zuschreiben muss. Und man muss sich schon arg Mühe geben, um eine Spur von Koketterie in all diesen so einfachen wie gewichtigen, so höchst konzentrierten wie extrem entspannten Versen auszumachen: Mein Weg, "wie das schon klingt -/ ein paar Kiesel, über die ich nicht gestolpert bin."

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Quelle:
SZ vom 05.04.2018
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