Gegenwartsliteratur:Das Schwiemelige und das Schwülstige

Gegenwartsliteratur: Michael Wildenhain:  Die Erfindung der Null. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 304 Seiten, 22 Euro.

Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 304 Seiten, 22 Euro.

Junge und späte Liebe in Michael Wildenhains Sex- und Mathematikroman "Die Erfindung der Null".

Von Tobias Lehmkuhl

Es ist das Hauptmotiv so vieler Hollywood-Filme: Die erste Liebe ist die wahre Liebe. Mögen sich zwei auch verlieren, mögen sie andere Menschen heiraten und sich jahre- und jahrzehntelang nicht sehen, am Ende stellt sich doch heraus, dass die erste Liebe die schönste, reinste, dauerhafteste ist. Wie im Märchen wird nach neunzig Minuten alles gut, was lange währt. Richtig und wichtig ist allein die große Highschool-Liebe.

Der Name Susanne Melforsch klingt zwar nicht nach Hollywood, aber auch diese Figur aus Michael Wildenhains neuem Roman "Die Erfindung der Null" kann nicht lassen von dem jungen Mathematikdozenten, den sie als Schülerin hört, dem sie auf sein Zimmer folgt, um wortlos seine Hand auf die eigene mädchenhafte Brust zu legen. Eine Ehe und ein erwachsenes Kind später, versucht sie mit der gleichen Geste den inzwischen verwahrlosten Mathematiker erneut zu verführen.

Auch Martin Gödeler, dieses einstige große Versprechen der Mathematik, hat Ehe und Kind hinter sich, zudem eine Reihe heißblütiger Affären. Das hört sich dann so an: "Obwohl mich die Wucht der Erregung für Augenblicke schwindeln macht, gehe ich auf sie zu. Wir berühren einander, wir küssen uns. In meinem Inneren beginnt eine Reise." Oder es hört sich, siebzehn Seiten später, so an: "Sie beugt sich in meinen Schoß. Wir stürzen ineinander und vergessen die Zeit." Oder, bloß fünfzehn Seiten später: "Ich werde sie durch meinen Körper erfahren, ich werde bald wissen, dass er mir ein Terrain der Wollust lange Zeit vorenthalten hat."

Man könnte also meinen, in einem schwiemeligen Erotikheftchen gelandet zu sein, aber tatsächlich handelt es sich um ein gebundenes und im ehrwürdigen Klett-Cotta-Verlag erschienenes Buch. Zudem ist der Autor von einiger Reputation; sein letzter Roman "Das Singen der Sirenen" stand nicht zu Unrecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Und auch "Die Erfindung der Null" ist ein Roman, der es darauf anlegt, große Literatur zu sein. Zumindest gibt sich der Autor alle Mühe, die Handlung mittels mathematischer Theoreme auf eine philosophische Ebene zu heben ("Induktionsschritt", "Gegenprobe" und "Lemma" lauten unter anderem die ambitionierten Kapitelüberschriften). Zudem wird dem Leser einiges an kriminalistischem Interesse abverlangt: Hat Martin Gödeler nun in Südfrankreich seine einstige Geliebte Susanne Melforsch umgebracht oder nicht? Warum erzählt er dem Staatsanwalt seine Lebensgeschichte, statt sich zur Sache zu äußern? Und warum hört sich der Staatsanwalt das alles an?

Der Grund, warum aus dem vielversprechenden jungen Mathematiker, der zwischen Hamburg und Berlin pendelt, ein Nachhilfelehrer geworden ist, der jeder Körperpflege abhold in einer Messi-Wohnung in Stuttgart vor sich hin vegetiert, sei hier immerhin verraten: Eine der Affären ist dann doch mehr als eine Affäre. Sie trägt den prätentiösen Namen Elisabeth Lucile Trouvé, und wie es sich für eine Femme fatale gehört, hat sie rote Haare, ein echtes Rasseweib also, das der Erzähler, man kann es nicht anders sagen, sich nicht entblödet, mit einer männerfressenden Gottesanbeterin zu vergleichen.

Der Gipfel der Abgeschmacktheit ist erreicht, als dieses Insekt von einer Frau in einer extremistischen Anwandlung die Berliner Siegessäule zu sprengen versucht, woraufhin auch Martin Gödelers Leben den Bach runtergeht.

Schwülstige Sexszenen kombiniert mit einer an den Haaren herbeigezogenen, politisch problembewussten Handlung: In Hollywood hätte solch ein Werk gute Chancen, mit der Goldenen Himbeere ausgezeichnet zu werden.

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