Gegenwart:Ich sehe was, was du nicht siehst

Artist's concept of possible exploration of the surface of Mars.

Auch die Nasa überlegt, wie der Mars besiedelt werden könnte. Elon Musk hat die Wette, wer zuerst Menschen dorthin schickt, angenommen. Abb.: NASA

Marskolonien, 4000 Meter hohe Häuser, das ewige Leben: Das Comeback der Visionen, finanziert mit dem Geld aus dem Silicon Valley, legt die Frage nahe, welchen Fortschritt wir wollen.

Von Gerhard Matzig

Auf der Empore stand ein einzelner Mann. Er war von verblüffend jugendlichem Aussehen, obschon sein Bart und das lange, über den Kragen reichende Haar stark ergraut waren. Er trug T-Shirt und Sakko, Jeans und Cowboystiefel. Sein Grinsen strahlte wie Leuchtturmfeuer." Julian Orley, so heißt der Mann in Frank Schätzings Roman "Limit", sagt im Buch alsbald: "Na dann: Rock 'n' Roll!"

Schön, dass der altehrwürdige, möglicherweise untote Rock 'n' Roll, der vor einem halben Jahrhundert als letzte große Utopie wahre Strahlkraft entfalten konnte, selbst im Jahr 2025 und obendrein im All noch zum futuristischen Fanal taugt.

Unser Mann im Mond, Orley, hat allen Grund zum Leuchtturmgrinsen: Im Jahr 2025 ist der Charismatiker, changierend zwischen Größenwahn und Genie, Menschenliebe und Menschenverachtung, der reichste Mann der Welt und Chef der bedeutendsten Technologieschmiede. Um Milchstraßenlänge rangiert er vor Apple, Google & Co. Weltmann Orley degradiert die Nationalstaaten, privatisiert den Weltraum und erfindet den umweltschonenden Weltraumlift. Somit löst er das Energieproblem der Menschheit im Handstreich: durch den Abbau von Helium-3 aus der Regolith-Schicht im Mondstaub. Orley ist ein Technikfreak und Visionär, dazu Großkapitalist, Futurist, Utopist und Egomane. Sein Lieblingsschimpfwort: "Bedenkenträger". Lieblingsverb: "machen".

Versprochen wird die Rückkehr der Zukunft und des Glaubens daran: Rock'n'Roll

Auffällig ist, dass sich die Schriftsteller und Filmemacher immer öfter beim realen Personal der ökonomischen Gegenwart bedienen, vor allem aus dem Silicon Valley, um ihre surrealen Zukunftsfiguren zu überzeichnen. In Dave Eggers dystopischer Internet-Apokalyptik "The Circle" wirkt der smarte Konzernchef Tom Stenton, der ein Raumschiff bauen, aber in Wahrheit nicht das All, sondern die Erde beherrschen will, fast wie der reale Jeff Bezos. Der ist nicht nur der Begründer von Amazon, sondern auch Chef von Blue Origin. Das ist ein emsig agierendes Raumfahrtunternehmen. Erste bemannte Testflüge soll es nächstes Jahr geben.

Der fiktive Roman-Orley erinnert dagegen an eine Mischung aus Elon Musk und Paul Allen. Der eine, Musk, ist Gründer des Online-Bezahldienstes PayPal, Chef des zuletzt wegen tödlicher Autopilot-Unfälle in die Kritik geratenen Elektroautoherstellers Tesla und Schöpfer der Raketenfirma Space X. Langfristiges Ziel: Kolonien auf dem Mars. Derzeit lässt Musk Tomaten züchten, die unter Weltraumbedingungen gedeihen. Auch am Projekt "Hyperloop" arbeitet er. Das ist ein Konzept für ein Hochgeschwindigkeitstransportsystem. Sollte es realisierbar sein, werden wir uns schon bald selbst in elektrisch betriebene Transportkapseln eintüten - um bis zu 1225 km/h schnell auf Luftkissen durch Röhren zu rasen. Als Human-Rohrpost sozusagen.

Der andere Visionär, Allen, hat zusammen mit Bill Gates Microsoft gegründet und steht auf der Liste "The World's Billionaires". Der von Allen entwickelte Raumgleiter SpaceShipOne wurde von der Virgin Group um Richard Branson gekauft. Schon jetzt besitzen Hunderte Menschen Tickets ins All. Branson denkt über Weltraum-Touristik nach.

Das sind nicht nur Träume für irgendwann mal. In einem Hangar in Kalifornien lässt Allen derzeit das größte Flugzeug der Welt bauen. Mit einer Spannweite von 117 Metern soll es 37 Meter breiter werden als ein Airbus A380. Das Flugzeug soll jedoch nicht in der kommerziellen Luftfahrt, sondern für die Raumfahrt genutzt werden. Man dachte ja, dass sich Nationen wie China, Indien und die USA ein Rennen zum Mars liefern. Es sind aber Privatleute mit viel Geld und einem gemeinsamen Technikhintergrund, die das schon jetzt tun. Bringt man deren Biografien zur Deckung, schaut immer irgendwie ein Julian Orley oder ein Tom Stenton heraus.

Als Figuren sind das nun gerade keine Bedenkenträger. Es sind Macher, ja Utopisten, die von der Renaissance der großen, möglicherweise auch größenwahnsinnigen Visionäre künden, wie sie zuletzt vor allem aus dem 19. und 20. Jahrhundert einer technikberauschten und zukunftsverrückten Moderne hervorgetreten sind. Figuren sind es aber auch, bei denen man angesichts ihres unternehmerischen Furors nicht so genau weiß, ob sie die Welt nun retten oder doch nur zur besseren Renditeabschöpfung verändern und beherrschen wollen. Möglicherweise trifft beides zu.

Sicher ist: Ihre Utopien und Blaupausen einer fernen Welt ziehen immer heftigere Kritik auf sich - und nähren so die Frage, welche Form von Fortschritt und Zukunftsglaube heute eigentlich noch möglich oder sinnstiftend ist.

Man wirft den Visionären, die mehrheitlich aus dem Silicium-Tal stammen, jetzt aber nicht nur nach dem iCar, einem Drohnenflughafen oder der indischen Facebook-Filiale, sondern am liebsten gleich nach den Sternen greifen, schon seit Langem vor, dass sie beispielsweise "Green Washing" für eine "verlogene ökologische Selbstverpflichtung" (Evgeny Morozov) betreiben. Dazu zählt Morozov auch das "Open Washing" (nicht vorhandene Transparenz) sowie das "Empathy Washing". Letzteres ziele auf ein "vermeintlich humanitäres, soziales Unternehmensengagement". Am interessantesten ist aber die Frage, welche Washing-Form der so offen zur Schau gestellte Welterlösungs-Habitus mit sich bringt.

Versprochen wird einem im Zuge der neuen Visionen nicht nur der Trip ins All oder irgendein neues Produkt, und sei es ein Selbstfahrsmartphone, sondern: eine neue Welt. Und vor allem die Rückkehr der Zukunft und des Glaubens an ihre gesellschaftliche Wirkmacht: Rock 'n' Roll. Was uns dargeboten wird, ist ein neuer Sehnsuchtsort, eine Utopie im Wortsinn als "ou-tópos", als Nicht-Ort, der wahr wird, indem er erobert, ja kolonialisiert wird.

"Das", so das Manager Magazin, "passt zur Hybris, die im Silicon Valley momentan um sich greift. Der Tech-Elite reicht es nicht mehr, einfach nur reich zu werden. Es geht neuerdings immer gleich ums große Ganze: die Welt retten!" Das zielt auf Larry Page (Google), der nach dem passenden Algorithmus zum ewigen Leben sucht - in Aussicht gestellt wird eine "Pille gegen das Altern".

Das zielt auch auf Elon Musk und sein Mars-Habitat, auf Mark Zuckerbergs Drohnenflotte - oder auf gigantische Wolkenkratzer aus Pflanzen, mehr als 4000 Meter hoch; oder auf Tiefseestädte, die weit unter dem Meeresspiegel Wohnraum bieten. Die Kritiker staunen nicht über solche Verheißungen, sondern über "den quasireligiösen Glauben an sich selbst, der die Tech-Revolutionäre zu noch Höherem antreibt". Es seien "Weltenretter und Größenwahnsinnige" in einem.

Das könnte fast von Claude-Nicolas Ledoux stammen, einem "revolutionären" Architekten des 18. Jahrhunderts, der einst meinte, als Architekt sei man "Rivale des Schöpfers, Herausforderer der Titanen". Möglicherweise wurde Ledoux als Musk, Allen oder Zuckerberg wiedergeboren.

Die jüngere Geschichte visionärer Großprojekte und sonstiger Titaneien ist reich an bizarren Beispielen. Der Expressionist Herman Sörgel plante einst das Projekt "Atlantropa". Das heißt: Er wollte das Mittelmeer mit Hilfe gigantischer Staudämme um Hunderte Meter absenken, um einen neuen Kontinent, Landwirtschaftsflächen und Wasserenergie für die ganze Welt zu gewinnen. Oder "die Röhre" von Günther Eckert. Der plante 1979 eine 35 000 Kilometer lange, röhrenförmige Konstruktion mit einem Durchmesser von 250 Metern, die 300 Meter über dem Meeresspiegel auf Pylonen ruhend um die Erde herum gebaut werden sollte - als Habitat der gesamten Menschheit, als Riesen-WG.

Aber auch der Turm des Gustave Eiffel, 324 Meter hoch und bis 1889 als seinerzeit höchstes Bauwerk der Welt errichtet, war in seiner Epoche zunächst nur eine verrückte, ja wahnsinnige Idee, gegeißelt von einer Öffentlichkeit, die sich den Turm nicht vorstellen konnte und nicht den geringsten Sinn darin sah. Heute ist der Eiffelturm eines der populärsten Embleme der modernen Welt. Die Frage nach der Sinnstiftung beantwortete Eiffel, der Techniker und Kaufmann in einem war und somit ein früher Ahnherr der Silicon-Valley-Traumtruppe von heute: "Man macht, was man machen kann." Da ist es wieder, das Lieblingsverb aller Orleys: machen.

Die Zukunft als Glaubensbekenntnis technoider Machbarkeit ist tatsächlich eine Erfindung der Neuzeit, einsetzend seit der Aufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Noch bis ins späte Mittelalter erschien das Leben als statischer Kreislauf immer gleicher Elemente. In den meisten Sprachen existierte das Futur als Zeitform gar nicht; der Futurismus und seine Dynamik von Aufstieg und Progression war zunächst noch sprach- und daher auch relativ machtlos. Die Imagination, um John Lennons ziemlich schlaffschönen Song "Imagine" zu bemühen ("Stell dir vor, es gibt den Himmel nicht . . .") ist angewiesen auf das Vehikel der Semiotik und die Anziehungskraft von Sprache, Chiffren und Bildern.

Elon Musk hört sich an wie ein Wiesn-Hit: Auf geht's zum Mars

Man kann sich Musks Videoclip angucken, in dem er von der Entstehung menschlichen Lebens bis zum Aufbruch zu den Sternen nur wenige Sekunden Redezeit braucht. Sie dienen einem suggestiven Geraune: Stell dir vor . . . Kurz: ein Clip wie ein Wiesn-Hit. Surreal zwar, aber sogleich will man emotionalisiert die Koffer packen. Auf geht's zum Mars. Doch nicht nur Kitsch, sondern auch Magie ist im Spiel, jetzt, da man dachte, sie sei dem neobiedermeierlichen Sofablick auf das bessere Gestern längst abhandengekommen.

Bei so viel Vorstellungszauber, der die Renaissance visionärer Gestaltungskraft befördert, dabei aber auch auf einem sehr großen Haufen Geld und noch größerem Ego basiert, von dessen Spitze aus man das Universum zielgenau ins Auge fassen kann, stellt sich die Frage, ob wir uns wirklich in einer Ära des Fortschritts befinden. Ist dem so?

Der kulturgeschichtliche Fortschritt bezieht sich nicht nur auf die technisch machbaren Sphären, sondern, wenn er denn einer ist, auch auf die geistige Evolution der Zivilgesellschaft.

Insofern aber leben wir heute lediglich in einer Update-Ära 2.0, 3.0, 4.0, 5.0, die nur immer neue Produkte und Dienstleistungen hervorbringt. Tatsächlich dienen sie dem mittelalterlich anmutenden Kreislauf der immer gleichen Elemente des Massenkonsums in einem fast statischen Wirtschafts- und Lebensmodell. So erweist sich die gegenwärtige Gesellschaft als retardierendes Moment einer Moderne, die sich lediglich der Ökonomie und der Technik verpflichtet fühlt. Die sozialen und politischen Visionen hinken den technischen Möglichkeiten weit hinterher.

Deshalb sind die Visionen eines ganzheitlich gestimmten Übermorgenlandes seltener als technoide Verheißungen. Was wir jedoch brauchen, ist nicht die Imagination einer anderen oder neueren, sondern die Vorstellung einer besseren Welt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: