Das Jahr wäre nicht rund ohne Anton G. Leitners feine Lyrik-Anthologie "Das Gedicht". Heuer ließ das Periodikum länger als sonst auf sich warten. Aber dem Weßlinger Dichter und Verleger, der es seit 26 Jahren schafft, fast ohne jede Subvention alle zwölf Monate einen buchdicken Band zu stemmen und darin die aktuelle deutschsprachige Lyrik abzubilden, haben 2018 diverse Krankheiten hart zu gesetzt. Deshalb hat der 57-Jährige seinem Leben eine Wende verordnet und beschlossen, seine Selbstausbeutung einzuschränken. Er verschreibe sich nur mehr zu 70 Prozent der Poesie und nicht mehr zu 120 Prozent wie früher, kündigt er in seinem Editorial an. Wenn das mal gutgeht.
Davon abgesehen ist das eine gelungene Überleitung zum aktuellen Thema der Anthologie: 2019 jährt sich im November der Berliner Mauerfall zum 30. Mal, für Leitner einer der wichtigsten Marksteine in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und so gesehen ist "Das Gedicht", in dem es um Wendepunkte im Politischen wie Privaten geht, doch ausnehmend pünktlich erschienen. Um nicht betriebsblind zu werden, hat sich Leitner auch für die 26. Ausgabe einen Mitherausgeber gesucht, die Autorin und Journalistin Melanie Arzenheimer. Gemeinsam haben die beiden Vertreter der Realpoesie ein Buch entwickelt, das seinem Thema alle Ehre macht: Der Leser kann es drehen und wenden, wie er möchte. Ein Start mit dem "poetischen Dreh" - den mehr oder weniger persönlichen Sichtweisen der Poeten auf einschneidende Erlebnisse - ist genauso möglich wie der Beginn mit den eher gesellschaftspolitisch orientierten "Wendepunkten". Wie auch immer er sich entscheidet: Irgendwann landet er bei der ausgezeichneten Sammlung von Kindergedichten, die Uwe-Michael Gutzschhahn zusammengestellt hat.
Viel gibt es zu lesen, manches zu bedenken, oft schmunzelt man. Selbstreflexives und lakonische Beobachtungen stehen neben konsum- und kapitalismuskritischen Tönen der 140 Lyriker, darunter Sujata Bhat, Helmut Krausser, Paul Maar oder Gerhard Rühm. Nicht immer sind die Wendepunkte so dramatisch wie in Leitners "Kreuz des Südens: "Auf der Autostrada del Sole / Eine halbe Sekunde lang / Taggeträumt und gleich / Überschlagen vor Glück." Jan-Eike Hornauer dagegen fordert logisches Denken: "Die Mauer ist niedergerissen / Lasst uns / Zäune errichten!" Nicht nur der Kosten wegen, sondern auch zwecks Leichtigkeit und Transparenz. "So geht modernes Bauen."
Den Augsburger Gerald Fiebig quälen Albträume. "Wir werden aussterben, weil wir blind waren: weder die nebel über der schulter des orion noch die wendelrolltreppen der aminosäuren drehten sich um uns, / doch glaubten wir das für gewöhnlich." Günther Kunert rätselt über den Anfang, der das Wort war, welches im Lauf der Zeit vergessen wurde. "Wie denn bloß / hieß damals das Wort?" ( Das Gedicht, Bd.26, Anton G. Leitner Verlag)
Siegfried Völlger zählt zu den Poeten, die bereits des öfteren im "Gedicht" vertreten waren. Normalerweise stellt der gelernte Buchhändler für Verlage Anthologien zusammen, sammelt Gedichte für Trauernde oder Verse für Hochzeiten. Doch jetzt hat der Augsburger im Allitera Verlag einen Band mit eigener Lyrik vorgelegt. Den Titel hat er in Klammern gesetzt: (so viel zeit hat niemand). Aber es schadet nicht, sich ein bisschen Zeit zu nehmen für seine meist kurzen und angenehm unaufgeregten Gedichte. Oft sind es kleine Alltagsbeobachtungen, aus denen der Dichter Schlüsse zieht, etwa wenn er einer lauernden Katze zusieht: "Ich dachte immer / sie warten so auf mäuse / jetzt / weiß ich / sie beruhigt die erde."
Norbert Göttler verbindet mit Anton G. Leitner, dass er spät das Bairische für sich als poetisches Ausdrucksmittel entdeckt hat. Jetzt aber experimentiert er ganz beschwingt damit. Lautes Lesen hilft, falls sich manche Wörter nicht sofort erschließen, wie der Buchtitel "Herbstwindwischpara" (Allitera). Der vielseitige Göttler, seines Zeichens Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, Autor und Fernsehregisseur, empfindet die dunklen Monate als die klassische Jahreszeit für Lyrik. In vielen Zeilen klingt Melancholie an, auch ist der Herbst "schenant". Denn "bloß für minuten / foit d'sonn / auf de letztn astern / vom johr / ois dad se da herbst / scheniern / weger dera / sentimentalität."
Kapitel fünf hat Göttler mit Abzählreimen zum "boarischlerna" und "drähwurmgluschta" für Kinder reserviert. In den anderen neun, vorzüglich illustriert von Klaus Eberlein, findet er "Gluadnester in da näwesuppn" oder lässt "aufm boarischen brocken" die bayerische Nachkriegs-Musikerszene aufmarschieren. "Wos reisert so hoamli / durch den schwarzbraunen woid? / des is da zwerg tobi / 's is eahm saukoid." Tobi Reiser, österreichischer Fleischhauer, Erfinder des chromatischen Hackbretts und von 1938 an Beauftragter für Volksmusik im Gau Salzburg, bleibt aber nicht lang allein. Die Kameraden von früher eilen heran. "Es dinglert und fanderlt / es orfft und es egkt / hinta jädm Busch hot se / a brauns Manndl vasteckt." Mit von der Partie natürlich "da hexnmoasta strauss". Der dirigiert den gemeinsamen Gesang "vo da heilign nocht / des hot eahna soimois / da ludwig thoma beibrocht." Sehr schräg, sehr böse und ausgesprochen treffend.