Süddeutsche Zeitung

Gedicht von Liu Xiaobo:Worte aus der Zelle

"Abgesehen von einer Lüge besitze ich nichts": Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo schreibt in einem Gedicht über seine Gefangenschaft.

Ich hatte mir vorgestellt, da zu sein, unterhalb des Sonnenlichts

Mit der Prozession der Märtyrer

Und nur den einen dünnen Knochen zu benutzen

Um an einer wahren Überzeugung festzuhalten

Und doch, die himmlische Leere

Wird das Geopferte nicht mit Gold überziehen

Ein Rudel Wölfe wohlgenährt, satt von Leichen

Feiert in der warmen Mittagsluft

Überschäumend vor Freude

Weit entfernter Ort

In den ich mein Leben verbannt habe

Diesen Ort ohne Sonne

Um der Ära von Christi Geburt zu entfliehen

Ich kann der blendenden Vision auf dem Kreuz nicht entgegentreten

Von einem Rauchfähnchen bis zu einem kleinen Haufen Asche

Ich habe das Getränk der Märtyrer fließen lassen, fühle den Frühling

Wie er dabei ist, in das Brokatgefunkel unzähliger Blumen auszubrechen

Tief in der Nacht, leere Straße

Ich radle heim, ich halte an einem Zigarettenstand

Ein Auto folgt mir, überfährt mein Fahrrad

Ein paar gewaltige Kerle ergreifen mich

Ich werde in Handschellen gelegt, die Augen verbunden, geknebelt

In einen Gefängniswagen geworfen unterwegs ins Nirgendwo

Ein Blick, ein zitternder Moment zieht vorbei

Zu einer plötzlich leuchtenden Einsicht: Ich lebe noch

In den nationalen Fernsehnachrichten

Ist mein Name geändert in "verhaftete Schwarze Hand"

Obwohl diese namenlosen weißen Knochen der Toten

Noch immer im Vergessen stehen

Hoch hebe ich jede selbsterfundene Lüge

Sage jedem, wie ich den Tod erlitten

So dass "Schwarze Hand" zur Ehrenmedaille eines Helden wird

Auch wenn ich weiß

Der Tod ist ein geheimnisvolles Unbekantes

Wenn man lebt, kann man ihn nicht kennenlernen, auf keine Weise

Und einmal tot

Kann man ihn nicht noch einmal erleben

Doch schwebe ich noch immer im Tod

Ein Schweben im Ertrinken

Zahllose Nächte hinter vergitterten Fenstern

Und die Gräber unter dem Sternenlicht

haben

Meine Albträume offenbart

Abgesehen von einer Lüge

Besitze ich nichts

Der chinesische Dichter und Dissident Liu Xiaobo erhielt in diesem Jahr den Friedensnobelpreis. Sein Land verweigert ihm jedoch die Ausreise nach Oslo, um den Preis entgegenzunehmen. Das hier abgedruckte Gedicht "Worte, die eine Zelle nicht halten kann" aus dem unveröffentlichten Zyklus "Den Tod erfahren" wurde zuerst in der New York Times veröffentlicht. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Steinfeld.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2010/kar
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