Man muss nur einmal auf dem Pariser Platz gestanden haben, um zu verstehen, was es für einen Effekt hat, wenn eine Institution hier eine Aktion für die Kunstfreiheit veranstaltet. Da ist das Brandenburger Tor, vielleicht das Wahrzeichen des wiedervereinigten Deutschlands schlechthin. Flankiert von der Vertretung einer großen Bank, von der französischen und der amerikanischen Botschaft, die russische ist auch nicht weit - und vom Glasbau der Akademie der Künste. Im Rücken hat man den Trutzbau des Luxushotels Adlon. Und durch die Arkaden des Tors ist der Bundestag zu sehen. Einen so herrschaftlichen, so historisch aufgeladenen Platz gibt es in Deutschland nicht noch einmal.
Genau hier hat die Stiftung Brandenburger Tor - die Kulturstiftung der Berliner Sparkasse - an der Fassade ihres Sitzes, dem Max-Liebermann-Haus ein Banner mit Eugen Gomringers Gedicht "avenidas" aufgehängt - jenes Gedicht, das die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf von ihrer Hauswand entfernen will, weil es Studenten dort sexistisch erscheint. Diese Aktion ist deshalb nicht nur eine gut gemeinte Geste im Sinne der Kunst. Sie ist eine Machtgeste, darin unangemessen staatstragend und facht nur weiter eine ohnehin schon völlig unsinnig überhitzte Debatte an.
Debatte um Gedicht "Avenidas":Umstrittenes Gomringer-Gedicht ist am Brandenburger Tor zu sehen
Ab Donnerstag wird "avenidas" auf einem Banner gezeigt. Das Werk hatte eine Sexismus-Debatte ausgelöst. Von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule soll es deshalb verschwinden.
Kunst dürfe nicht durch kunstfremde Argumente beeinträchtigt, der öffentlichen Wahrnehmung entzogen oder verboten werden, so begründet die Stiftung die Aktion. Und genau da liegt das Problem. "Entzogen", "verboten" - das klingt, als gäbe es keine Gedichtbände, Bibliotheken, kein Internet, wo man "avenidas" weiterhin uneingeschränkt lesen kann. Als gebe es Kunstfreiheit erst dann, wenn jedes jemals geschriebene Gedicht an einer deutschen Hauswand steht. Und als könnten nach der wochenlangen Debatte über das Gedicht mittlerweile nicht mehr Menschen in diesem Land die Zeilen von "avenidas" auswendig als die erste Strophe vom "Erlkönig".
Das Recht, ein Gedicht altmodisch zu finden
Die Frage ist auch längst nicht mehr, ob und wie sexistisch Eugen Gomringers Gedicht ist. Man muss den Studenten in ihrer Gedichtinterpretation nicht zustimmen, um die Aktion der Stiftung überzogen zu finden: Junge Menschen haben durchaus das Recht, ein Gedicht altmodisch zu finden, an dem Älteren vielleicht gar nichts weiter auffällt. So funktioniert das nun mal mit dem Generationenwechsel.
Und auch sonst klingt, was in Berlin-Hellersdorf passiert ist, weder nach Kulturrevolution noch nach Zensur. Sondern eigentlich ziemlich demokratisch: Eine gewählte Studentenvertretung hat - respektvoll dem Autor gegenüber - ein Unbehagen gegenüber "avenidas" geäußert. Es gab eine Diskussion im Akademischen Senat und schließlich einen Kompromiss: In Zukunft soll alle fünf Jahre ein neues Gedicht an der Hauswand stehen. Wer sollte das Recht haben zu entscheiden, was an der Wand einer Bildungsrichtung stehen soll, wenn nicht die Menschen, die in ihr lernen und lehren?
Dass aus diesem Vorgang eine landesweite, mit größtem Furor geführte Debatte werden konnte, ist wahrscheinlich nur mit einer einigermaßen großen Angst vor einem Verlust an Deutungshoheit zu erklären. Nun wirft noch die Stiftung Brandenburger Tor das enorme symbolische Kapital ihres Sitzes in die Waagschale. Ein Kapital, das eine Hochschule an der Berliner Peripherie von Hellersdorf gar nicht hat. Das Aufhängen des Banners mit "avenidas" ist keine mutige Heldentat für die Kunstfreiheit, denn die war nie in Gefahr. Was die Stiftung mit ihrer Aktion am Pariser Platz beweist, ist nicht mehr als Gratismut. Kunst lässt sich nicht plakativ verordnen. Man muss über sie streiten.