Gedenkrede:Das Recht der Ertrinkenden

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Er erzählte von Israel, von den Opfern Europas und war einer der 36 Gerechten: Eine Rede für den großen Schriftsteller und Friedenskämpfer Amoz Oz zur Gedenkveranstaltung im Deutschen Theater in Berlin.

Von Ulla Berkéwicz

Im Mai 1989 notierte Siegfried Unseld in seiner Verlagschronik: "Fahrt von Jerusalem zu Amos Oz nach Arad. Die Scholemsche Umgebung und die Berkéwicz-Verwandten bezeichnen ihn als den bedeutendsten lebenden Schriftsteller Israels. Doch schieden sich an ihm die Geister, so, als wäre er selber ein politisches Problem, eine politische Lösung. Die Fahrt dauert normalerweise eine Stunde, aber die Straße führt durch besetztes Gebiet. Rechts und links Kibbuzim in der Ebene von Schefela, das israelische Wunder: aus Wüste wird fruchtbarer Boden. Beer Scheva, in biblischer Zeit Sitz der Patriarchen des Alten Bundes, mit dem Brunnen Abrahams sehen wir nur von fern. Die Wüstenfahrt ist lang. Und plötzlich sind wir in Arad. Das kleine Haus von Amos Oz am Rande der Wüste. [...] Er führt uns in sein Schreibzimmer. Wie überall sind die Fenster vergittert, doch von hier aus können wir auf ein wie verwunschen wirkendes Gärtchen sehen."

Das Gespräch beginnt stockend. Siegfried Unseld ist schon am Morgen nervös gewesen, Amos Oz scheint es auch zu sein. Er spricht über die gegenwärtigen Unruhen. Sagt, er sei kein Politiker, doch wolle er den Fragen nicht ausweichen. Ein palästinensischer Staat müsse entstehen. Nein, nicht auf der ganzen Westbank, wie die PLO es fordert, aber doch auf einem Teil, vielleicht auf dem Gebiet, sagt er, auf dem wir hier gerade sitzen.

Das Gespräch kommt nicht in Gang. Was weiß und denkt einer wie er, Inbild des Israelis seiner Generation, Kibbuznik, Kämpfer für den Frieden im Nahen Osten, von dem Deutschen ihm gegenüber, der wie alle Deutschen seiner Generation eine besondere Erlaubnis braucht, um nach Israel einreisen zu dürfen, einem, der vielleicht grade noch alt genug gewesen wäre, um zu jenen zu gehören, die mitgewirkt hatten an dem, was seither als Bruch der Zivilisation begriffen wird? Wir kommen auf Europa und dann auf Deutschland zu sprechen. Das Gespräch stockt.

"Man muss nicht zu Sklaven der Geschichte werden", höre ich Amos Oz sagen, "aber in diesem einen Teil Europas muss man niederknien und die Vergangenheit auf die Schultern laden, dann, danach, kann man hingehn, wohin man will."

Das Gespräch stockt immer mehr.

"Das Schuldbewußtsein der Deutschen", hebt Siegfried Unseld an - doch Amos Oz fällt ihm ins Wort: "Das Schuldbewußtsein der Deutschen ist eine jüdische Erfindung. Dann sind die Christen gekommen und haben es auf der ganzen Welt vermarktet. Als Jude", sagt er, "habe ich entsetzliche Schuldgefühle, weil wir die Schuldgefühle erfunden haben."

Das Gespräch bricht ab.

In den Bücherregalen stehen Kant und Hegel, deutsche Ausgaben - liest der Mann deutsch? Es ist still am Wüstenrand, nur die Bewässerungsanlage draußen vorm Fenstern jaunert. "Und du", fragt Amos Oz mich plötzlich, "du bist doch keine Deutsche?" "Doch", sage ich zu laut, "und", sage ich noch lauter, "ich habe Verwandte in Israel." "Wo", fragt er. "In Tel Aviv, Herzlia -" Er unterbricht mich: "Wo, in Tel Aviv?" "Im Norden", antworte ich.

"Straße?", fragt er. "Mein Onkel wohnt in der Nahalalstraße", antworte ich weiter.

"Nummer?", fragt er. "Elf." "In welchem Stockwerk?" "Im ersten." Eine Pause entsteht.

"Dort hat mein Onkel auch gewohnt", sagt er dann. "In den fünfziger Jahren während der Sommerzeit. Ich habe ihn damals oft besucht." "Ich meinen auch", sage ich, "im Sommer in den fünfziger Jahren."

"Wie heißt dein Onkel", fragt er. "Fein", sage ich. "Was", sagt er, "der Untergrundkämpfer aus der Mandatszeit?" "Ja", sage ich, "und wie heißt Ihrer?" "Er hieß Klausner", sagt er. "Aber den hab ich doch gekannt", rufe ich aus, "Joseph Klausner, ich habe alle seine Bücher gelesen, unsere Onkel waren Freunde, und wir haben damals oft miteinander auf dem weißen Mäuerchen vorm Haus gesessen." "Ja", sagt er, "und du hast mir dein Springseil geschenkt. Stimmt's?" "Ja", sage ich, "und du mir deinen Schreibstift. Stimmt's?"

Wir stehen auf, wir müssen raus, alle drei. Laufen durch den Garten, stolpern über die Bewässerungsschläuche, reden über meinen und seinen Onkel, den berühmten Gelehrten, gehn im Kreis, reden über Hegel und Kant, gehn zwischen mannshohen Kakteen, deren Früchte, die Sabres, außen stachlig und innen süß, den im Lande Geborenen ihren Namen gegeben haben.

Wir hören Amos Oz erzählen, wie wir es Jahrzehnte später in seiner "Geschichte von Liebe und Finsternis" lesen werden. Von Jerusalem mit seinen Regen- und Windnächten, wo er aufwuchs in den vierziger Jahren, von den Europäern, die sich in der Levante verloren fühlten, europäischen Juden, die, wie seine Eltern, alle europäischen Sprachen beherrschten, europäische Dichter rezitierten und an Europas Moral geglaubt hatten. Vom Leben der Menschen dort, das bedroht war und gefährdet. Angst vor den Arabern, Angst vor den Deutschen, Angst vor Gewalt, Pogrom, Massaker, Krieg; Angst, dass die Verwandten, die nicht in Palästina angekommen waren, gerade in Europa ermordet werden, Angst, die täglich vergraben werden musste, um weiterleben zu können.

Er hat sich dem Zorn Andersdenkender ausgesetzt, um des Friedens willen

Wir hören ihn die Geschichten seiner Eltern und Großeltern erzählen, aus Odessa, Wilna, Rowno, wo jüdische Menschen von einem Ort träumten, an dem sie ohne Angst leben könnten. "Als der Antisemitismus dort unerträgliche Ausmaße annahm, bemühte mein Großvater sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, man sagte ihm, er müsse sechzehn Jahre warten. Er bemühte sich um die britische, die französische, um eine skandinavische Staatsbürgerschaft, überall wurde er abgewiesen. Keines dieser Länder wollte noch mehr Juden aufnehmen. Meine Großeltern klammerten sich an den einzigen Strohhalm, der ihnen geblieben war, und kamen 1933 schließlich nach Jerusalem."

Die Erzählspur führt immer weiter in die Wüste, die Männer gehen Arm in Arm vor mir her. "Im Jahr '43 oder '44", höre ich den einen erzählen, "erfuhr meine Mutter, dass dort, bei Rowno, alle ermordet worden waren." Deutsche, Litauer und Ukrainer hätten die ganze Stadt, jung wie alt in den Sossenki-Wald getrieben.

Und dort, zwischen Vögeln und Pilzen und Waldbeeren, hätten die Deutschen am Rand von Gruben innerhalb von zwei Tagen an die 25 000 Menschen erschossen. Darunter seien fast alle Klassenkameraden seiner Mutter gewesen und auch deren Eltern und alle Nachbarn und alle Bekannten, Fromme und Assimilierte und Getaufte, Gemeindesprecher, Synagogenvorsteher, Hausierer und Wasserträger, die Intellektuellen, die Künstler, die Dorftrottel und 4000 Kleinkinder.

Und höre den anderen sagen, was er am Vorabend von meiner Tante erfahren hatte: dass es die Wehrmacht gewesen sei, nicht etwa die Waffen- oder Totenkopf-SS, die Annath, ihre Eltern und ihre beiden Brüder zusammen mit 2000 anderen Juden aus ihrem Dorf Karlsruhe bei Odessa in einen Wald getrieben hatte, wo sie einen langen Graben ausheben und sich an dessen Rand stellen mussten, um erschossen zu werden. "Es war die Wehrmacht", höre ich Siegfried Unseld sagen, was er vorher im Schreibzimmer hatte sagen wollen. "Das ist im deutschen Schuldbewusstsein noch nicht angekommen, wie so manches, noch nicht oder nie. 2 Millionen Juden, die auf diese oder ähnliche Weise ermordet wurden", höre ich ihn im Mai '89 zu Amos Oz sagen; sechs Jahre später wurde die Hamburger Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht eröffnet.

Amos Oz ist der Erzähler Israels, er ist der Erzähler jenes Europas, was herrlich war und schrecklich gewesen ist. Und hat getan, was not tut, hat politische Schriften verfasst, Hunderte, Tausende Essays und Artikel, Hunderte, Tausende Reden gehalten, sich dem Zorn Andersdenkender ausgesetzt, um des Friedens willen. Hat den Frieden hineinerklärt in eine Welt, die den Staat Israel denunziert und stigmatisiert wie kaum einen anderen.

Die reiche arabische Welt hat den Palästinensern nicht aus ihrer Armut herausgeholfen

Obwohl die 1988 verfasste Gründungscharta der Hamas das wichtigste Dokument des islamischen Fundamentalismus darstellt, werden ihre bis heute unverändert gültigen Inhalte immer noch weitgehend ignoriert. Wird ignoriert, dass sie Antisemitismus zum wichtigsten Teil ihrer Weltanschauung bestimmt und den Dschihad gegen Israel zur ersten Etappe eines weltweiten antijüdischen Vernichtungskrieges erklärt. Jeder Versuch eines israelisch-arabischen Dialogs, jede Einigung mit Israel, welche den Rückzug seiner Siedler und Soldaten aus den besetzten Gebieten beinhaltet, wurde torpediert, und die Attentate richteten sich in erster Linie auf die israelische Zivilbevölkerung. So verhalf die Hamas mit ihren Selbsttötungsmassakern den ihr jeweils am feindlichsten gesinnten Parteien in Israel zur Macht.

Wer Amos Oz' "Geschichte von Liebe und Finsternis" gelesen hat, wer dort liest, wie sehr Israel das Ergebnis einzig verbliebener Hoffnung und unvorstellbarer Verzweiflung ist, wer in seinen politischen Schriften liest: "Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist ein tragischer Kampf zwischen zwei Opfern Europas. Die Araber waren die Opfer von Imperialismus und Kolonialismus, Unterdrückung und Erniedrigung; die Juden waren die Opfer von Aussonderung, Verfolgung und eines in der Geschichte einmaligen Völkermords. [...] Das jüdische Israel ist ein Flüchtlingslager. Und Palästina ist ein Flüchtlingslager. Die Hamas ist eine Idee, geboren aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung."

Wer sich darüber im Klaren ist, dass die reiche arabische Welt den Palästinensern nicht aus ihrer Armut herausgeholfen hat, weil die palästinensische Armut ihre Waffe gegen Israel war, ihre Vorzeigeschuld, wer weiß, dass die riesige arabische Welt den Palästinensern keinen Raum gibt, weil die Palästinenser dort verhasst sind wie zu Zeiten in Europa die Zigeuner, und wer bei Amos Oz weiterliest: "Unsere Rechtfertigung hinsichtlich der arabischen Bewohner des Landes kann sich nicht auf unserer uralte Sehnsucht berufen. Wir besitzen keine andere Rechtfertigung als das Recht eines Ertrinkenden, der nach dem einzig erreichbaren Balken greift. Es besteht ein abgrundtiefer Unterschied zwischen einem Ertrinkenden, der nach einem Balken greift und sich Platz verschafft, indem er die anderen, die dort sitzen, zur Seite schiebt, und einem Ertrinkenden, der die dort bereits Sitzenden ins Meer stößt. Der Kern des Konflikts ist das Aufeinanderprallen von zweierlei Recht und oft genug von zweierlei Unrecht. Die Palästinenser leben in Palästina, weil es das Land der Palästinenser ist. Die israelischen Juden leben in Israel, weil sie keine andere Heimat haben und weil sie als Nation nie eine andere Heimat hatten. Die Extremisten auf beiden Seiten werden weiterhin alles in ihrer Macht Stehende tun, um einen historischen Kompromiss und einen Friedensschluss zu unterminieren - aber der Frieden wird kommen, weil die Mehrheit beider Völker ihn will und weil die Extremisten auf beiden Seiten eine Minderheit darstellen."

Wer Amos Oz' Bücher und Schriften gelesen hat, wird in ihm neben dem großen Erzähler auch einen der 36 Gerechten erkennen, die es nach alter jüdischer Überlieferung geben muss auf der Welt, damit sie bestehen bleibt.

Ulla Berkéwicz , geboren 1946 in Gießen, ist Autorin und Vorsitzende des Aufsichtsrates des Suhrkamp -Verlages in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Band "Über die Schrift hinaus" (2018). Wir drucken die Rede, die sie bei der Gedenkveranstaltung für den am 28. Dezember 2018 verstorbenen Amos Oz am Sonntag im Deutschen Theater in Berlin hielt, in einer gekürzten Fassung.

© SZ vom 06.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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