Museum "23,5 April":Zwischen allen Stühlen - und zwischen zwei Tagen

Museum "23,5 April": Für den Mord an Dink wurde nur ein Jugendlicher verurteilt, keine Hintermänner. Dagegen gab es 2012 Proteste vor dem Istanbuler Gericht.

Für den Mord an Dink wurde nur ein Jugendlicher verurteilt, keine Hintermänner. Dagegen gab es 2012 Proteste vor dem Istanbuler Gericht.

(Foto: AFP)
  • Eine Stiftung hat in Istanbul ein Museum für den armenischen Journalisten Hrant Dink eröffnet.
  • Der Gedenkort ist der erste öffentlich zugängliche Ort in der Türkei, der an den Genozid an den Armeniern erinnert.
  • Dink, der sich für eine Annhäherung der beiden Länder eingesetzt hatte, wurde 2007 von einem 16-jährigen Ultra-Nationalisten erschossen.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Geschichte sorgt für seltsame Zufälle und historische Daten können bisweilen unerwartete Dynamik entfalten. Der 23. April ist in der Türkei ein nationaler Feiertag, er erinnert an die Eröffnung des ersten freien Parlaments 1920. Das Land versinkt an diesem Tag Jahr für Jahr in einem Meer türkischer Flaggen. Gefeiert wird gleichzeitig der "Kindertag", was dem Jubiläum Leichtigkeit gibt, es dürfen auch Luftballons aufgehängt werden.

Ganz anders der 24. April. An diesem Tag gedenken die Armenier weltweit der Ermordung und Vertreibung ihrer Vorfahren im Osmanischen Reich. Am 24. April 1915 begannen in Istanbul die Verhaftungen von armenischen Ärzten, Anwälten, Professoren und Künstlern. Die meisten von ihnen wurden danach nie wieder gesehen. In der Türkei gibt es kein offizielles Erinnern daran. Bislang leugneten alle türkischen Regierungen, dass die Armenier Opfer eines Genozids wurden. Dass es Hunderttausende Tote gab, wird nicht mehr bestritten. Aber das Wort Völkermord ist tabu, genauso wie die Frage, was mit dem Eigentum der Ermordeten geschah.

"Licht und Dunkel", schrieb der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink mit dem Blick auf den Kalender im April, "was für ein Dilemma." Er wolle an einem Tag feiern und am nächsten gedenken, nur wie? In einem Text mit dem Titel "23,5 April" plädierte er dafür, "die Welt ganz den Kindern zu überlassen", denn sie empfänden keinen Hass. Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 im Alter von 52 Jahren in Istanbul von einem 16-jährigen Ultranationalisten auf offener Straße erschossen.

"23,5 April" heißt nun der Erinnerungsort, den die Hrant-Dink-Stiftung in Istanbul eingerichtet hat. Die ehemaligen Redaktionsräume der von Dink 1996 gegründeten zweisprachigen Zeitung Agos wurden in ein anspruchsvoll gestaltetes Museum verwandelt, das auch eine Begegnungsstätte für junge Menschen sein soll. Die Zeitung ist dafür umgezogen. Die Stiftung hat damit in der Türkei etwas bisher Einmaliges geschaffen: einen intimen und doch öffentlich zugänglichen Ort, der an eines der großen Traumata des Landes erinnert.

Wie erinnert man an einen großen Mann, ohne in die Falle der Heldenverehrung zu tappen?

In Sivas zum Beispiel, wo 1993 bei einem Brandanschlag auf ein alevitisches Kulturfestival 35 Menschen starben, gibt es bis heute keine Gedenkstätte. Das Attentat galt dem Autor Aziz Nesin, der überlebte. Auch Pläne, ein Foltergefängnis in Diyarbakır in ein Museum zu verwandeln, warten noch auf eine Realisierung.

Die Stiftung hat sich zunächst in vielen Ländern umgesehen, um zu erfahren, wie Erinnern ohne Heldenverehrung geht. Sie hat den in Paris lebenden armenischen Künstler Sarkis gefunden, der mit einer Installation einen ehemaligen Redaktionsraum in einen eindrucksvollen Ort der Stille verwandelt hat. In den übrigen Räumen ist das Archiv von Agos zu finden, werden Lebensstationen von Dink nachgezeichnet, und wer möchte, kann auch die eigene Geschichte mit Video aufzeichnen. Schon lange ist es kein Geheimnis mehr, dass viele armenische Kinder nach den Massakern vor über 100 Jahren bei türkischen Familien aufwuchsen. Dink druckte oft Anzeigen von Menschen, die nach ihren armenischen Familienangehörigen suchten.

Als er 2004 schrieb, auch Sabiha Gökçen, türkische Kampfpilotin und Adoptivtochter von Republikgründer Kemal Atatürk, habe armenische Verwandte gehabt, brach ein Sturm der Entrüstung los, der sich bis zu Dinks Tod nicht legte. Wie türkische Medien die Emotionen in der "Gökçen-Affaire" hochputschten, wie Dink zum Ziel gemacht wurde, all das kann man hier noch einmal betrachten. Nachdem ein ultranationalistischer Anwalt Dink wegen eines Artikels angezeigt hatte, wurde er wegen "Beleidigung des Türkentums" verurteilt, ein Schock für den Journalisten. Auch der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk war aufgrund des hochumstrittenen Paragrafen 301 angeklagt, aber sein Prozess wurde eingestellt, ebenso wie der gegen die Autorin Elif Şafak. Nur Dink wurde verurteilt, und er fragte sich in einer bitteren Bilanz, ob das damit zu tun hat, "dass ich Armenier bin?" Der Text erschien unmittelbar vor seiner Ermordung in Agos. Das Land verlassen, in dem er immer gelebt hatte, wollte Dink nie. Er wollte nicht "in den Westen", weil das nicht seine Welt war, wie er sagte. Und er wollte nicht in das benachbarte Armenien umsiedeln, weil er wusste, dass er dort "als Türke" keinen Platz hatte. Dink war auch von Armeniern oft hart kritisiert worden, weil er für Annäherung statt Angriff warb. Einfach gesagt: Ihn interessierten die Lebenden mehr als die Toten. Das war genug für eine Existenz zwischen allen Stühlen.

Aufgewachsen war er in einem armenischen Waisenhaus am Rand Istanbuls. Dort lernte er auch seine Frau Rakel kennen. Die Hochzeit wurde an einem 23. April gefeiert, "und zwischen 23. und 24. April hatten wir unsere Hochzeitsnacht", schrieb Dink in dem Text über seine Probleme mit dem Kalender. Rakel Dink sagte bei der Eröffnung des Erinnerungsorts: "Ich hoffe, die Türkei wird nicht mehr versuchen zu vergessen", sie habe Dink ja nun "immer vor Augen". Sibel Asna vom Stiftungsvorstand sagte, "wir haben versucht, Erinnerung und Hoffnung zu verbinden". So könnten die Opfer der Vergangenheit zu einer Kraft der Veränderung werden.

Die Türkei war in dieser Hinsicht schon einmal weiter. Vor zehn Jahren wagten Politiker auf beiden Seiten der geschlossenen Grenze so etwas wie einen türkisch-armenischen Frühling, aber der Mut erstarb im diplomatischen Hickhack. Etwa 60 000 Armenier leben noch in der Türkei. Zum Osterfest haben einige Istanbuler Stadtteilgemeinden in diesem Jahr ihre armenischen Mitbürger mit Plakaten in Armenisch beglückwünscht. Noch ein Fest im April.

Wegen des Gedenkkalenders haben sie sich jetzt mit der Eröffnung von "23,5" beeilt. Wenn im Juni auch die mehrsprachigen Audioguides fertig sind, wird der Erinnerungsort für alle Besucher offenstehen.

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