Gedenken an den 9. November 1938:Als unser Leben zerbrach

Reichskristallnacht

"Diese Nacht kam nicht aus heiterem Himmel": Eine jüdische Ladenfront nach der Zerstörung durch Nazis, fotografiert am 10. November 1938.

(Foto: dpa)

Was in der Nacht des 9. November 1938, der "Reichskristallnacht", geschah, erscheint heute unvorstellbar. Zum Glück kann man nicht mehr nachempfinden, was wir fühlten. Die Routine im Umgang mit der Erinnerung ist aber gefährlich. Erinnern muss mehr sein als bloßes Gedenken.

Ein Gastbeitrag von Charlotte Knobloch

Es braucht nicht viel: ein klirrendes Geräusch, ein beißender Geruch - schon sehe ich mich zurückversetzt in die Nacht des 9. November 1938. Ich spüre noch immer die Hand meines Vaters. "Nicht stehen bleiben, Charlotte!", hat er mir eingeschärft. Überstürzt sind wir aus unserer Wohnung geflohen, irren durch die Straßen. Wir sind auf der Flucht - mitten in meiner Heimatstadt München. Um uns herum sind Lärm und Geschrei, Scherben und Flammen und immer wieder das Johlen: "Juda verrecke!"

Ich war damals nicht überrascht. Diese Nacht kam nicht aus heiterem Himmel. Das Gefühl der Ausgrenzung und Entrechtung kannte ich bereits. Stigmatisierung und Diffamierung hatten meine Kindheit geprägt. Das Bewusstsein, im negativen Sinne etwas Besonderes zu sein, war alltägliche Erfahrung geworden. Bis heute hat die prägende Erfahrung der antijüdischen Schmähungen die Wahrnehmung des deutschen Judentums nachhaltig verrückt. Heute ist kaum einem Deutschen mehr bewusst, welch glühende Patrioten die Mehrheit der deutschen Juden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren. Stolz und voller Hoffnung hatten sie sich jahrzehntelang assimiliert. Zehntausende zogen freiwillig im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland an die Front. Zwei Jahrzehnte später wurden sie aus dem öffentlichen Raum ihrer so geliebten Heimat verbannt. Sie durften sich nicht mehr frei bewegen, geschweige denn sich für einen Moment auf einer Bank niederlassen. Längst war meinen ehemaligen Spielkameraden der Kontakt mit mir, dem "Judenkind", verboten. Die Klavierlehrerin und das Kindermädchen hatten das Weite gesucht.

Nein, ich war also nicht überrascht über die Gewalt, auch nicht als Kind. Und doch: Das schrille Grölen, das Klatschen, das höhnende Lachen, das Feuer, die Splitter und herabstürzenden Trümmer - je mehr ich sah, desto größer wurde meine Angst. Bis zum 9. November 1938 hatte ich die Demütigungen und Anfeindungen verkraften können, und auch verachtet und bespuckt zu werden. In dieser Nacht der Erbarmungslosigkeit aber überkam mich die Verzweiflung. Die warme und kraftvolle Hand meines Vaters hatte mir stets Mut gegeben. Nun vermochte sie es nicht mehr. Zu groß war meine Furcht. Zu übermächtig war das Gefühl, ausgeliefert zu sein, hilflos und ohnmächtig. Im September 1935 hatte Hitlers "Reichsbürgergesetz" dem jüdischen deutschen Bürgertum mit einem Federstrich die staatsbürgerlichen Rechte entzogen. In jener Nacht am 9. November 1938 begriff ich: Wir haben unser Existenzrecht verloren.

Feind der Erkenntnis

Das war vor 75 Jahren. Für einen jungen Menschen ist das eine Ewigkeit. Für mich ist es, als wäre es gestern gewesen. Was damals geschah, ist heute nicht mehr vorstellbar. Zum Glück kann man nicht mehr nachempfinden, was wir fühlten: verachtet und entrechtet zu sein, von der Staatsgewalt als "lebensunwert" zum Abschuss freigegeben. Umso wichtiger - und eiliger! - ist es jedoch, das (Ge-)Denken an das Unvorstellbare zu verändern.

Die zunehmende Routine im Umgang mit der Erinnerung an die NS-Verbrechen ist durchaus normal, aber in letzter Konsequenz für unsere politische Kultur gefährlich. Denn die Routine ist der Feind der Erkenntnis. Wenn überhaupt, stellt sich immer zum 9. November kurzfristige Betroffenheit ein. Für viele Veranstaltungen gilt: Gut gemeint ist lange noch nicht gut gemacht und eben auch nicht (mehr) hinreichend.

Wir stehen an der historischen Schwelle, jenseits derer aus der Zeitgeschichte Geschichte wird. Der Nationalsozialismus entschwindet der Zeitgenossenschaft. Die Erlebnisgeneration stirbt - sie muss ihre Erinnerung an eine Erkenntnisgeneration weitergeben. Wir müssen die nachfolgenden Generationen ermutigen, aus freien Stücken und eigener Überzeugung heraus ihre Verantwortung für das Vermächtnis der deutschen Geschichte zu übernehmen: "Nie wieder!"

Erinnern ist mehr als Gedenken

Doch wir laufen stattdessen Gefahr, dass die kommenden Generationen Stück für Stück aus dem gewachsenen gesellschaftlichen Konsens wegbrechen. Denn dieser Konsens ist brüchig, brüchiger, als viele glauben. Ein Gedenken um des Gedenkens willen ist jungen Menschen nicht mehr zu vermitteln. Sie haben keine Schuld. Sie brauchen sich nicht für unser Land zu schämen. Den nachfolgenden Generationen ist die Notwendigkeit des Erinnerns nur dann verständlich, wenn unsere Erinnerungskultur nicht in der Vergangenheit verharrt. Erinnern muss mehr sein als bloßes Gedenken.

Charlotte Knobloch

Charlotte Knobloch, geboren 1932 in München, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und war von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Der Erkenntniseffekt stellt sich nur über den Brückenschlag in die Gegenwart und in die Lebensrealität der Nachgeborenen ein. Es geht nicht allein darum, die Opfer von einst dem Vergessen zu entreißen. Vielmehr sollen neue Opfer verhindert werden. Die unkündbare Erinnerung an den Holocaust macht uns die Verletzlichkeit auch unserer Freiheit und Demokratie bewusst. Zivilisation ist nie selbstverständlich. Der Mensch bleibt zur Unmenschlichkeit imstande.

Wachsam und leidenschaftlich

Ich wünsche mir in Deutschland einen aufgeklärten Patriotismus, der für unsere freiheitlich-demokratischen Werte einsteht. Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen in unserem Land begreifen, was in deutschem Namen geschehen konnte und dass daraus auch ihnen eine Verantwortung für heute erwächst: Wir müssen wachsam und leidenschaftlich gegen antidemokratische Tendenzen kämpfen. Jedem Anfang ist zu wehren! Menschenverachtung ist niemals harmlos. Unterschätzen und Wegschauen können schon der Ausgangspunkt einer erneuten Katastrophe sein. Dies lehrt die "Reichskristallnacht", jene Nacht, die Auschwitz den Weg ebnete.

Je älter ich werde, desto öfter stelle ich mir die Frage: "Wie konnte das passieren?" Wie konnten im Namen dieses kultivierten Volkes Millionen unschuldiger Kinder, Frauen und Männer ermordet werden, allein, weil sie Juden waren? Ich werde keine Antwort erhalten. Aber ich werde zeitlebens dafür kämpfen, dass diese Frage sich nicht dereinst erneut stellt.

Ich hoffe, dass die Menschen sich dereinst einander als Menschen begegnen können, ohne auf Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder sonstige Kriterien zu schauen, die herangezogen und bedient werden, um einander auf- oder abzuwerten. Das wäre die Konsequenz für die kommenden Generationen aus jener Nacht, in der ich an der Hand meines Vaters als sechsjähriges Mädchen durch München irrte. Menschen sind verschieden, zum Glück. Doch die Andersartigkeit des Anderen muss in Menschlichkeit aufgehen, das ist die Basis des friedlichen und respektvollen Miteinanders. Wenn wir das beherzigen, können wir selbstbewusst und stolz zu unserer Heimat stehen.

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