Gedächtnislücken bei Gabriel García Márquez:Liebe in Zeiten des Vergessens

Sein Bruder sagt, er habe Probleme mit dem Gedächtnis, seine Stiftung dementiert Berichte über ein Demenzleiden: Der Gesundheitszustand des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez ist ungewiss. Sein Bruder bemüht sich täglich, die Erinnerung des Schriftstellers aufzufrischen - aus der Ferne.

Peter Burghardt, Cartagena, Kolumbien

Manchmal, wenn er Lust hat und ihm seine Gäste für einen Streifzug durch dieses Universum geeignet erscheinen, dann bittet in Cartagena de Indias ein kleiner Mann durch eine winzige Holztür. Die Stiftung des Neuen Iberoamerikanischen Journalismus versteckt sich hinter einem mächtigen Tor, doch Einstieg und Ausstieg sind so niedrig, dass sich auch Jaime García Márquez ducken muss.

Gedächtnislücken bei Gabriel García Márquez: Es ist ein Abschied auf Raten: Gabriel García Márquez, hier neben seiner Frau Mercedes im Zug nach Aracataca, seiner Geburtsstadt und Vorlage für das fiktive Macondo, wird als Autor nicht zurückkehren.

Es ist ein Abschied auf Raten: Gabriel García Márquez, hier neben seiner Frau Mercedes im Zug nach Aracataca, seiner Geburtsstadt und Vorlage für das fiktive Macondo, wird als Autor nicht zurückkehren.

(Foto: AFP)

Die Häuser in der kolumbianischen Hafenstadt sind Festungen der Geschichte. Schon in der Kolonialzeit hatten Fremde einiges Interesse an diesem Kleinod an der Karibik, nach Angriffen des Piraten Sir Francis Drake legte die spanische Krone einen elf Kilometer langen Schutzwall an und das Fort San Felipe. Später verteidigten die Kolumbianer ihre Bastion der Unabhängigkeit gegen die Spanier. Der Gastgeber also öffnet die Luke des kleinen Stadtpalastes. Es geht hinaus in eine reale, unwirkliche Welt.

Die Sonne schickt sanftes Licht an jenem Abend im November 2010, die schwüle Luft treibt den Schweiß. Ein Pantomime zerrt ein imaginäres Auto durch die enge Straße. Eine Pferdekutsche rumpelt vorbei, und die Zeit scheint stillzustehen. Jaime García Márquez trägt eine weiße Guayabera, das Tropenhemd, weiße Hose und weiße Schuhe. Auch ohne Schnauzbart und Brille sieht er dem ältesten und berühmtesten seiner Geschwister nicht unähnlich. Vor allem, wenn er die Augen aufreißt und von der Liebe erzählt und vom Tod.

Früher war der jüngere García Márquez Ingenieur. Seit 1994 zählt er zur Leitung der Reporterschule, die Gabriel García Márquez gegründet hat. Er wurde Statthalter des großen Gabo, den er Gabito nennt. Der Nobelpreisträger besitzt in Cartagena zwar ein Haus, es steht ganz in der Nähe. Aber er wohnt mit seiner Frau Mercedes meistens in Mexiko-Stadt und kommt seit seiner Krebserkrankung vor 13 Jahren nur noch selten in die Heimat. Jetzt, im Sommer 2012, ist Jaime García Márquez hier noch mehr als sein Repräsentant und sein Fremdenführer durch Gassen und Geschichten. Er ist ein Stück seiner Erinnerung.

Ende vergangener Woche lüftete Jaime García Márquez vor spanischen Schülern das Geheimnis. Schnell wurde die Meldung zur Weltnachricht, nachdem wochenlang über die angeschlagene Gesundheit des berühmtesten Schriftstellers Lateinamerikas gerätselt worden war.

"Einige Probleme mit dem Gedächtnis"

Es hieß, er erkenne seine Freunde nicht mehr oder liege womöglich sogar im Sterben. Körperlich gehe es ihm gut, berichtete der 71-jährige Jaime García Márquez, doch "er hat einige Probleme mit dem Gedächtnis". Die Stiftung des Schriftstellers dagegen dementiert Berichte über eine Demenzerkrankung. Stiftungsdirektor Jaime Abello versicherte, es liege keine medizinische Diagnose vor.

Die ganze Familie leide im Alter unter seniler Demenz, sagt Jaime, er selbst spüre bereits Anzeichen. Bei seinem Bruder seien die Symptome sehr fortgeschritten. Das mache auch die Chemotherapie von 1999, die Zellen und Neuronen zerstört habe. Bücher werde er nicht mehr schreiben können.

Es wird demnach keinen zweiten Band seiner Autobiografie "Leben, um davon zu erzählen" geben. Teil eins hatte in den Fünfzigerjahren geendet. Allerdings: Jeden Tag telefoniere Jaime García Márquez mit seinem bewunderten Gabito, um dessen Gedächtnis aufzufrischen.

Geboren im Zentrum des Magischen Realismus

Dann reden sie vielleicht über Aracataca alias Macondo. Aracataca ist Gabos Geburtsstadt, sie liegt in einem heißen Tal südlich von Barranquilla neben Bananenplantagen und einem Flussbett mit Steinen von der Größe prähistorischer Eier. Aracataca alias Macondo ist das Zentrum des Magischen Realismus. Sie kommen bei ihren Gesprächen wahrscheinlich auch auf Cartagena. Die Traumkulisse war ein Hafen von Sklaven für Amerika und von Gold, Silber und Smaragden für Europa. Und es wurde eine Lieblingsbühne des Autors.

Cartagena ist, was Kolumbien sein will

Gabriel García Márquez kam im April 1948 nach Cartagena, in Bogotá war gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen. Dem Mord an dem liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán folgte ein Gemetzel, das bis heute nicht vorbei ist.

Hunderttausende fielen der Violencia, der Ära der Gewalt, zum Opfer, später wüteten Guerilla, Paramilitärs und Drogenhändler. Der Student García Márquez hatte den Anschlag an Gaitán erlebt und flüchtete nach Norden, Jura wurde langweilig. Es empfingen ihn die Kirchen und Konvente, die Mauern und Stimmen der Ciudad Heróica, der heldenhaften Stadt - und Fledermäuse, die ihn zu Boden trieben, ehe er sie auf Anraten einer Passantin mit einem Gebet vertrieb wie Teufel, nachzulesen in seinen Memoiren. Seine erste Nacht begann der Neuling angesichts des unbezahlbaren Hotelzimmers in dem grünen Park neben dem Denkmal von Simón Bolívar. Sie endete in einer Gefängniszelle.

Cartagena ist nicht nur die schönste Stadt Kolumbiens, sie war auch in schlechteren Zeiten eine der sichersten. Jedenfalls innerhalb ihrer mächtigen Mauern und am mondänen Strand. Ein Hort der Touristen, Schönheitsköniginnen und Kongresse, jenseits von Rebellen und Todesschwadronen.

Kürzlich fand in dem Freiluftmuseum der Amerikagipfel statt. Cartagena ist, was Kolumbien sein will. Historisch, mystisch, friedlich, fortschrittlich, populär. Jaime García Márquez beginnt Rundgänge gewöhnlich vor der unauffälligen Journalistenwerkstatt, denn nebenan war ehedem die Zeitung El Universal untergebracht.

Hier gab Gabito sein Debüt als Kolumnist, der erste Beitrag widmete sich der Sperrstunde, metallisch eingeläutet von der Uhr an der Boca del Puente. Seine Kurzgeschichten waren bereits in der Literaturbeilage von El Espectador aufgefallen. Sein Mittagessen nahm der angehende Lohnschreiber gerne auf dem damaligen Marktplatz ein, "einer Mischung aus Schreien und Farben". Was sie beim gegrillten Fisch hörten, "damit machten wir die Zeitung des nächsten Tages".

"Die Umstände seines Lebens waren immer sein Nährboden"

Jaime Garcia Márquez führt durch das Portal des los Escribanos, heute Portal de los Dulces. Zum Konvent de las Clarisas, einem Schauplatz des Werkes "Von der Liebe und anderen Dämonen" und inzwischen ein Luxushotel, zu einer Bar mit Gabos Bild an der Wand. "Die Liebe ist die Essenz", sagt er.

Jaime García Márquez erzählt von "Die Liebe in den Zeiten der Cholera", verkitscht in einem Kinofilm, bei dem er beriet. Er folgt den Wegen der Figuren Florentino Ariza und Fermina Daza, "die das Temperament unserer Mutter hatte". Über Gabito sagt er: "Die Umstände seines Lebens waren immer sein Nährboden. Er sagte, dass die Realität die Fiktion übertrifft."

Aber das Stiefkind der Erinnerung ist das Vergessen. Gabriel García Márquez schreibt in "Hundert Jahre Einsamkeit" von "der Pest der Schlaflosigkeit". Das Schlimmste an der Krankheit sei nicht die Unfähigkeit zu schlafen, sondern das Vergessen. Wenn der Kranke sich einmal an seinen wachenden Zustand gewöhnt habe, dann verschwänden zunächst die Erinnerungen an die Kindheit aus seinem Gedächtnis und danach sein Name und der Name der ihn umgebenden Dinge und schließlich die Identität der Menschen und sogar das Bewusstsein von der eigenen Person, bis man in eine Art vergangenheitslosen Stumpfsinn verfalle.

Seine Frau Mercedes, seine Kinder, seine Freunde und sein Bruder Jaime García Márquez am Telefon in Cartagena werden sich nach Kräften bemühen, Gabos Erinnerung am Leben zu halten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: