Süddeutsche Zeitung

Geburtstag:Für sich selbst verantwortlich sein

Er hat Dante übersetzt und Boccaccio als philosophischen Autor entdeckt: Kurt Flasch wird neunzig.

Von Gustav Seibt

Es will etwas heißen, wenn man das Vorwort zu einem Buch auf den eigenen Geburtstag datiert. Das tat Kurt Flasch, der an diesem Donnerstag neunzig Jahre alt wird, am 12. März 2013. Der erste Satz des ersten Kapitels lautete dann: "Ich, mit 83 Jahren, gehe mit kräftigen Schritten aufs Ende meines Lebens zu." Die kraftvollen Schritte haben ihn nun schon sieben Jahre weiter getragen, in denen kein Nachlassen der Produktivität zu bemerken war. Die Ausbeute seit Flaschs Achtzigstem sind vier Monografien, darunter eine umfangreiche Studie zu Hans Blumenberg, und eine Übersetzung von Dantes "Göttlicher Komödie", begleitet von der gelehrten "Einladung, Dante zu lesen".

Das Geburtstagsbuch von 2013 trägt einen bekenntnishaften Titel: "Warum ich kein Christ bin." Manchmal werden alte Menschen fromm, hier lesen wir eine klare, kühle Absage an den Glauben, in den Flasch als Kind einer Mainzer Familie mit engen Verbindungen in die Geistlichkeit und den politischen Katholizismus hineingeboren wurde. Dieses Buch sagt sehr oft "ich", man kann darin Flasch als Person besser kennenlernen als in jedem seiner früheren Werke, die bezaubernde und traurige Kindheitsgeschichte "Über die Brücke" (2002) nicht ausgeschlossen.

Darin hatte Flasch seine jugendlichen Erfahrungen in der nationalsozialistischen Diktatur und im Krieg dargestellt. Beim großen Luftangriff auf Mainz von 1944 verlor der Vierzehnjährige seine Mutter und seine Geschwister - der Vater überlebte, weil er als regimefeindlicher Katholik in die schlesische Provinz versetzt worden war. Die Kindheitsgeschichte exponierte das katholische Milieu als humanen Schutzraum gegen das mörderische, sogar nach dem Leben von Kindern greifende Regime. Bei den Katholiken wurde der junge Flasch aufgefangen und geschützt, hier kam er früh in Kontakt mit Gelehrsamkeit und mittelalterlichen Handschriften. Sogar den ersten Nietzsche-Band empfing er von einem unerschrockenen Geistlichen.

So war der bald komplett Verwaiste - auch der Vater starb früh - intellektuell gut gerüstet für ein beispielhaft intensives Studium, unter anderen bei Horkheimer und Adorno, den Granden der Frankfurter Schule, aber natürlich auch bei katholischen Lehrern wir seinem Doktorvater Johannes Hirschberger. Dieser ist heute vergessen, dabei hat er eine einst weitverbreitete grundsolide zweibändige Philosophiegeschichte verfasst. Man wird sie künftig vielleicht nur noch lesen, weil sie zeigt, was Kurt Flasch als Philosophiehistoriker nicht sein wollte: Ein Historiker von fixierten Lehrmeinungen, Ideen und Dogmen.

Philosophie ist eine kommunikative Bewegung, sie hat Orte und Zeiten

Flasch hat seine Konzept von Philosophiegeschichte, das er von 1970 bis 1995 als Lehrstuhlinhaber in Bochum, als gelehrter Herausgeber mittelalterlicher Quellentexte und seit seiner Emeritierung als schier grenzenlos fruchtbarer Schriftsteller immer neu erprobte und verfeinerte, oft reflektiert, am umfassendsten in den beiden Bänden "Philosophie hat Geschichte" von 2005. Am lebendigsten erlebt man es immer noch in der wunderbar leicht erzählten Synthese über "Das philosophische Denken im Mittelalter" (1986/2000).

Schon der Titel spricht. Es geht ums Denken, nicht um Systeme. Philosophie ist eine kommunikative, dia- und polylogische Bewegung, sie hat Orte und Zeiten, also Vorläufer und Kontexte. Sätze lassen sich nur verstehen, wenn man andere Sätze kennt, auf die sie antworten. Flasch vergleicht solche Konstellationen mit Teppichen, die alle verschieden sind und deren Vielfalt den Historiker und sein Publikum erfreut. Zugleich erfordert ihre Betrachtung hochauflösende Philologie.

Ist das nicht Historismus, gar Relativismus? Wo bleibt das Bleibende? Nun, auch "Relativismus" ist ein zeitgebundener Begriff (ein moderner), auch er steht nicht außerhalb der Geschichte. Denn nur sie, die Geschichte, haben wir. Die Vernunft erweist sich im Dialog der Zeiten, in der Möglichkeit von Verstehen und Nachvollzug. Philosophie, ihr Denken, ist dann zu begreifen, konstituiert sich nicht unabhängig vom jeweiligen epochalen Wissenssystem, sie antwortet auf Problemlagen ihrer jeweiligen Zeit.

Darum sind die von heute aus oft fernen, zuweilen esoterischen Gegenstände von Flaschs meisten Forschungen - das Jahrtausend zwischen Augustinus und Machiavelli - nicht einfach ein entlegenes Fachgebiet, sondern ein ideales Gelände für die Erprobung von Denken überhaupt: je fremder, desto erhellender. Wer Flaschs Mittelalter bereist, lernt auch die Gegenwart von einer neuen Seite kennen. Vielleicht lernt er sie überhaupt erst kennen. "Der Kinderkreuzzug war unvernünftig, meinetwegen", sagt Flasch irgendwo. "Aber was war dann der Erste Weltkrieg?"

Dieser freie, stolze und heitere Ton wird noch lange hörbar sein

Ein entschieden gegenwärtiger Schriftsteller wurde Flasch je länger, desto mehr. Die Zahl seiner Zeitungsartikel und Essays geht in die Tausende. Er debattierte mit Päpsten, Gelehrten und Dichtern in vielen Sprachen, mischte sich selten, aber dann mit schneidender Schärfe in die Politik ein, am hörbarsten immer, wenn ein Kriegsgeschrei laut wurde. Dem Sündenfall der geistigen Mobilmachung von 1914 hat er ein eigenes Buch gewidmet - was dann 2003 los war, konnte ihn nicht überraschen, nur anwidern.

Der Begriff der Philosophie hat sich dabei immer mehr erweitert. Flaschs Entdeckung von Boccaccio als philosophischem Autor kann stellvertretend für ein literarisches Interesse stehen, das von Dante bis Robert Gernhardt reicht. Die vor Kraft sprühenden zwei Regalmeter von Flaschs Produktion haben ihr Zentrum in der mittelmeerischen Welt, in Italien vor allem, dem Kreuzweg, an dem sich auch griechische und arabische Traditionen trafen, wo die Philologie entstand und mit der machtvollen Kirche auch die Kritik an ihr. In Italien wachsen auch die Weine und die Nahrungsmittel, ohne die Kurt Flasch, der Meisterkoch, nicht vorstellbar sind. Ein schönes, freies Deutschsein hat der Mainzer Lokalpatriot vorgelebt: Ohne Florenz geht es nicht.

"Warum ich kein Christ bin": Das Ich signalisiert hier keine Bekenntnisschrift, kein "Ringen", sondern Arbeit. Es radikalisiert Flaschs Grundgedanken von der Zeit- und Ortsgebundenheit des Denkens. Sein nicht traumatisches, von Verletzungen ganz freies Herausarbeiten aus einer zweitausendjährigen Tradition beschreibt Flasch selbst geschichtlich. "Zufälle der Geburt, der Geschichte und der Umgebung (...) machten mein Leben und Denken zu einem individuellen Beispiel für das heutige Verhältnis von Philosophie und Religion", so heißt es auf einer der ersten Seiten. Und wenig später: "Ich verstehe hier 'Philosophie' als die entschiedene Absicht, für meine Annahmen selbst verantwortlich zu sein." Dass man dabei auch den so angefassten Gegenstand, das Christentum, in allem Fremdartigkeitsglanz - Flasch spricht von der "barocken Stuckherrlichkeit der Beweispaläste" - besser kennenlernt als aus jedem Lehrbuch, dürfte auch Glaubenden begreiflich sein. Dieser freie, stolze und heitere Ton wird noch lange hörbar sein. Ein Ende ist nicht absehbar.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2020
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