Man kann nach Finnland fahren, nach Helsinki, und schlottern im September. Die Zeitungen berichten dann von Schnee im Norden, noch vor dem offiziellen Herbstanfang.
Andere Nachrichten sind noch frostiger: Luftraumverletzungen durch russische Kampfflugzeuge, Drohungen aus Moskau gegen einen möglichen Nato-Betritt Finnlands, die schmerzhaften EU-Sanktionen gegen Russland. Unter ihnen leidet Finnland besonders - das Land treibt viel Handel mit den Russen. Man kann die Menschen wieder sagen hören, dass sie sich bedroht fühlen vom unberechenbaren großen Nachbarn. Russland und Finnland teilen eine etwa 1300 Kilometer lange Grenze.
Was es tatsächlich heißt, Finne zu sein, zu diesem kleinen Volk am Rand der westlichen Welt zu gehören, das kann man als Besucher nur erahnen. Vielleicht wissen es die Finnen selbst nicht genau. Es scheint so, als suchten sie ihren Platz in der Welt, wie schon seit 200 Jahren. So jung ist ihre Nation. Und untrennbar verbunden mit dieser Suche ist die finnische Literatur.
Gerade jetzt beschäftigen sich viele finnische Autoren mit der Beziehung zwischen Finnland und Russland und schauen dafür in die Vergangenheit, auf die Kriege, in denen Finnland für seine Unabhängigkeit gekämpft hat.
Jahrhundertelang hat das Land zu Schweden gehört. 1809 nahmen die Russen den Schweden ihre finnischen Gebiete ab, schufen ein Großfürstentum Finnland. Das gehörte zwar zu Russland, war aber weitgehend autonom. Nach der Novemberrevolution 1917 erklärte sich Finnland von Russland unabhängig, die Linke putschte daraufhin gegen die Regierung, löste einen Bürgerkrieg aus. Die Bürgerlichen siegten und 1919 wurde Finnland zur unabhängigen Republik.
Krieg, Besatzung, Albert Speer
1939 griff die Sowjetunion an. Finnland widerstand lange, blieb unbesetzt, verlor aber Gebiete an die Russen. Es hielt zu den Deutschen, schloss aber 1944 einen Waffenstillstand mit den Sowjets und vertrieb die deutschen Truppen aus dem Land.
Die Kriege sind ein häufiges Thema in der finnischen Literatur. Katja Kettu beschreibt in "Wildauge" eine Liebesbeziehung zwischen einem SS-Offizier und einer finnischen Hebamme in Lappland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges.
Sofi Oksanens neuster Roman spielt in Estland, unter deutscher und russischer Besatzung - dieselben Themen also, nur der Schauplatz ist ein anderer. Kjell Westö schreibt über Helsinki zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, Jenni Linturi über Helsinki im Bürgerkrieg, Heidi Köngäs über Albert Speer in Lappland. Und so weiter.
Die aktuelle politische Lage, die wirtschaftlichen Sorgen, bleiben dagegen weitgehend unkommentiert. "Mir fällt kein Buch ein, das das heutige Finnland kritisieren würde und im heutigen Finnland spielt", sagt Tiia Strandén von der Literaturorganisation Fili, Finnish Literature Exchange. "Viele Dinge passieren heute in Finnland, die kommentiert werden müssten, auch durch Literatur." Aber vielleicht sei es schwierig, sie von innen zu sehen.
Stattdessen schauen viele zurück. Geschichte bestimmt die finnische Literatur - nicht nur als Motiv. Denn aus der Vergangenheit Finnlands ergibt sich die Aufgabe der Autoren, Identität zu stiften für ein ganzes Volk.
Vor 200 Jahren, als Karl XIII. den letzten schwedisch-russischen Krieg gegen Alexander I. verlor, wollten die Finnen zwischen diesen beiden Mächten vor allem eines: nicht mehr schwedisch sein, nicht russisch, sondern endlich finnisch. Was ihnen damals fehlte, war eine eigene Literatur. Die Elite in Finnland sprach und schrieb schwedisch, die einfachen Leute, vor allem die Landbevölkerung, dagegen finnisch.
Über jene schrieb 1870 Alexis Kivi den ersten großen Roman in finnischer Sprache. Zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Literatur Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik schon hinter sich. Kivi schrieb von sieben Brüdern, ungehobelten Finnen auf dem Lande, die sich nach dem Tod ihres Vaters ziemlich daneben benehmen. Sich weigern, lesen und schreiben zu lernen, sich Konventionen unterzuordnen.
Stattdessen flüchteten sie in die Wildnis, kehrten später geläutert zurück. Am Ende lernen sie doch noch das Alphabet. Der Elite hat das Buch damals nicht gefallen. Aber für sie hatte Kivis es auch nicht geschrieben, sondern eben für die einfachen Leute.
So ist es noch immer mit den finnischen Büchern, sagt Stefan Moster, ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller, der in Espoo nahe Helsinki lebt. "Es ist eine transparente Literatur, die sich nie extravagant gibt", sagt er. Eine Literatur, die alle verstehen, die oft aus der Perspektive der kleinen Leute geschrieben ist. Finnische Autoren hätten - anders als oft in Deutschland - nicht die Aufgabe, etwas Besonderes zu formulieren oder einen besonderen Standpunkt einzunehmen. In Finnland sei es umgekehrt: Hier nehme der Autor eher den normalen Standpunkt ein, nehme wahr, was alle anderen auch wahrnehmen.
"Der wunderbare Massenselbstmord"
Diese Volksnähe gelingt besonders gut in humoristischen Büchern über oft mittelalte Männer, die häufig betrunken in der finnischen Pampa an sich selbst leiden und vom Schicksal geschlagen werden, mehrfach.
Für Nicht-Finnen sind diese Geschichten manchmal traurig, was häufig daran liegt, dass sie den finnischen Humor nicht verstehen. Für Finnen sind es selbstironische Beschreibungen des Finnisch-Seins.
Bekanntester Vertreter dieses Humors ist Arto Paasilinna, der "Das Jahr des Hasen" geschrieben hat und "Der wunderbare Massenselbstmord". Dabei treffen sich Lebensmüde aus dem ganzen Land, weil sterben gemeinsam schöner ist als allein. Aktuell in Finnland sehr beliebt ist Tuomas Kyrö, der in "Mielensäpahoittaja" (finnisch für "Griesgram") einen greisen, schlecht gelaunten Finnen über das Finnland von heute meckern lässt.
Finnen lesen am liebsten finnische Bücher. Sprache ist dabei auch ein Mittel, sich zu definieren und abzugrenzen. Für die Finnen ist es wichtig, eigenständig zu sein, nicht dazu zu gehören, nicht zu Skandinavien, zu keinem Militärbündnis, zu keinem geschlossenen Sprachraum.
Im Ausland oder um die Ecke
Ihre Sprache sprechen nur die Finnen selbst, fünf bis sechs Millionen Menschen auf der Welt. "Die Bindung an die eigene Sprache ist dadurch wahrscheinlich stärker", sagt Übersetzer Moster. Andererseits gebe es gerade deswegen das Bedürfnis junger Autoren, übersetzt zu werden: "Weil sie da raus wollen."
Ihre Geschichten finden im Ausland statt, in London oder Tallin. Dass sie Finnen sind, soll in ihren Romanen keine Rolle mehr spielen, oder zumindest keine große.
Philip Teir ist einer dieser Ausbrecher. Er gehört zur schwedisch-sprachigen Minderheit in Finnland, ist Autor und Kulturredakteur. Sein Roman "Winterkrieg" - der Titel ist sein Kommentar zum allgegenwärtigen Kriegs-Motiv - handelt von einer bürgerlichen Familie in Helsinki. Es gehe um Generationen, um soziale Schichten, nicht ums Finnisch-Sein oder Schwedisch-Sein, erklärt er. Die Geschichte könne auch woanders spielen. Tut sie aber nicht, sie spielt bei Teir um die Ecke. Der Vater spricht Schwedisch, die Mutter Finnisch. Zumindest das sei "sehr typisch", gesteht der Autor. Typisch Finnisch.