Der Lyriker Durs Grünbein hat nach dem Streit mit dem Schriftsteller Uwe Tellkamp in Dresden eine tiefe Spaltung der Gesellschaft festgestellt. In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (Mittwochsausgabe) schreibt er: "Die einen bedauern dies und sind der täglich sich ausweitenden Spannungen müde", andere aber "begrüßen die Spaltung und versprechen sich vom offenen Streit eine reinigende Wirkung". Tellkamp hatte im Dresdener Kulturpalast am Donnerstag behauptet, 95 Prozent der Flüchtlinge seien in die Sozialsysteme "eingewandert". Der Suhrkamp-Verlag, der beide Autoren herausbringt, hatte sich daraufhin von Tellkamp distanziert.
Was von Tellkamps "Trumpfkarte", nämlich dieser Behauptung, zu halten sei, fragt Grünbein: "Dass es ein Privileg ist, Deutscher zu sein?" Dieselben Leute, die in die "Sozialsysteme des Westens" eingewandert seien, also die Ostdeutschen, "beklagen sich heute über den Zuzug aus anderen Erdteilen". Ihn erinnere dies sehr an die Mitläufer der Montagsdemos in der DDR: "Als es kein Risiko mehr war, auf die Straße zu gehen, waren sie plötzlich alle dabei - und marschierten dem Begrüßungsgeld entgegen."
Grünbein, der wie Tellkamp aus Dresden stammt, zeigt in seinem Beitrag durchaus Verständnis für die Enttäuschungen vieler Ostdeutscher nach der Wiedervereinigung. "Die deutsche Einheit haben viele als Chance, viele als Demütigung ihrer persönlichen Lebensentwürfe erfahren. Nicht wenige brachte es an den Rand ihrer Existenz." Doch gebe es auch im Westen Opfer von "Neoliberalismus" und "Mediokratie": "Wer fragt die Hartz-IV-Empfängerin aus Duisburg, wie es ihr im neuen Gesamtdeutschland geht?"
Dass das Gespräch mit Tellkamp als "Duell", als "medienwirksamer Schaukampf" inszeniert worden sei, sei ihm durchaus bewusst gewesen. Als "Liebhaber der römisch-amerikanischen Show-Kultur" wisse er, worum es geht - und werde sich über den Ausgang des Duells nicht beklagen. Vor allem sei er jederzeit bereit, für die Meinungsfreiheit zu kämpfen. Mit Blick auf die Konfrontation in Dresden, wo Tellkamp der rechte Verleger Götz Kubitschek beigesprungen war, schreibt Grünbein allerdings: "Aha, Meinungsfreiheit ist auch die Freiheit, sich mit den Meinungen der anderen gemein zu machen. Hinter der Meinungsfreiheit verbirgt sich mitunter jede Form von Gemeinheit, wie sie sich gerade in unserer Zeit drastisch zeigt.