Gallery Weekend Berlin:Die Beflügelung der Currywurst

Gallery Weekend Berlin: Großbürgerlicher geht kaum: Die Galerie Kicken zeigt in der Altbauwohnung am Charlottenburger Kaiserdamm den strengen Siebzigerjahre-Konzeptualisten Klaus Rinke.

Großbürgerlicher geht kaum: Die Galerie Kicken zeigt in der Altbauwohnung am Charlottenburger Kaiserdamm den strengen Siebzigerjahre-Konzeptualisten Klaus Rinke.

(Foto: Ludger Paffrath/Kicken Berlin)

Drogenstrich, Faschingsladen, Fabrikantenwohnung: Das Gallery Weekend zelebriert die ganze sozialräumliche Bandbreite Berlins.

Von Peter Richter, Berlin

Currywurst und Champagner. Das ist nicht nur eine immer wieder überraschend überzeugende Kombination, vor allem in den besonders sensiblen Stunden zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang. Das ist sogar die einzige kulinarische Leistung Berlins, die bislang auch international überzeugen konnte, nicht zuletzt im internationalen Kunstbetrieb. Selbst lyrischste Biennale-Kuratoren aus Italien hat man hier schon ungläubig, aber zunehmend begeistert Bockwürste aus der Fritteuse mit zwanzig Mal so teurem Schaumwein runterspülen sehen. Alles eine Frage der Uhrzeit. Und dann heißt die berühmteste dieser Buden auch noch "Bier's", liegt direkt am Ku'damm und hat ein Würstchen mit Flügeln zum Logo. Ist das zu glauben?

Gallery Weekend Berlin: John Armleders "Tricholomopsis rutilans", 2022.

John Armleders "Tricholomopsis rutilans", 2022.

(Foto: John Armleder/ Medhdi Chouakri)

John Armleder, der mittlerweile 73 Jahre alte Konzeptkünstler aus der Schweiz, fand das jedenfalls bei seinen Berlin-Besuchen immer wieder so entzückend, dass er die geflügelte Currywurst soeben für das "Gallery Weekend" hier zum Kunstwerk erhoben hat. Als Neonskulptur wie auch als Wandmalerei schwebt die nun durch die neuesten Galerieräume von Mehdi Chouakri, der mit seiner ganzen französischen Eleganz sozusagen persönlich den Champagner dazu darstellt. Armleder wird vielleicht gar nicht bewusst sein, wie tief er da an die Psychogeografie der Stadt rührt. Die ganz alten Westberliner erzählen ja, dass sie es seit dem Trauma der Berlin-Blockade, also dem sowjetischen Versuch des Aushungerns von 1948, als seelisch zwingend empfanden, dass jederzeit und überall eine Wurstbude in Sichtweite war - Qualität egal, Hauptsache, Kalorien waren auf Lager. Das ist sozusagen der existenzielle Kern der Sache, der Rest ist Zuckerguss aus den Remmidemmi-Jahren mit Harald Juhnke und David Bowie. Jedenfalls ist es kein Wunder, dass dieser ganze Berliner Currywurstmythos im Ostteil der Stadt bis heute viel weniger eine Rolle spielt.

Der Rundgang wird zur Rundfahrt, selbst ein Krematorium liegt nun auf dem Parcours

Der Ostteil spielte dafür in der ökonomischen Geografie der Stadt lange die Rolle des Lieferanten der atmosphärisch interessanten, zentrumsnahen Freiräume, die gerade von Künstlern und Galerien gern besiedelt wurden, denen sie inzwischen aber oft viel zu unerschwinglich geworden sind. Auch Chouakri ist schon vor Jahren lieber zurück ins bürgerliche Charlottenburg-Wilmersdorf gezogen, weil mittlerweile ausgerechnet die historischen Elendsquartiere von Mitte die teuersten der ganzen Stadt sind. Seine neuesten Räume liegen nun in den Wilhelm-Hallen oben in Reinickendorf. So weit hat sich das Publikum des Gallery Weekend noch nie bis an den Stadtrand begeben müssen, um Kunst zu sehen. Dafür sieht es in dem wilhelminischen Industriekomplex hoch im Norden bei der Gelegenheit auch, wo heute die Künstlerateliers so unterkommen, seit innerhalb des S-Bahn-Rings kaum noch was zu finden ist.

Der Rundgang wird bei diesem Gallery Weekend dadurch endgültig zur Rundfahrt, und wer Kunst will, kriegt bei der Gelegenheit auch eine Lektion in Urbanismus. Selbst das Krematorium vom Wedding liegt nun auf dem Parcours. Gezeigt wird dort von der Galerie Ebensperger unter anderem Otto Muehl, für den man sich allerdings auch kaum einen passenderen Bestimmungsort vorstellen könnte.

Neben neuen Räumen sind ohnehin alte Meister das eigentliche Thema dieses Wochenendes in Berlin. Die jungen Meisterinnen und die möglicherweise großen Namen von morgen gibt es natürlich auch, die 27 Jahre alte Ser Serpas bei Barbara Weiss zum Beispiel. Aber wer will, kann sich in Berliner Galerien gerade auch viele große Namen von gestern oder sogar vorgestern anschauen: Von Horst Antes (Galerie Friese) bis John Zurier (Nordenhake). Die Konrad Fischer Galerie zeigt noch einmal ihren Superstar Bruce Nauman, Dittrich & Schlechtriem haben diesmal sogar Albrecht Dürer und Francisco de Goya auf der Liste. Aber der älteste noch lebende Künstler wird von der jüngsten Berliner Galerie präsentiert. Das ist die Amerikanerin Joan Jonas, mittlerweile 85 Jahre alt.

Als Jonas vor Jahrzehnten mal eine Weile in Berlin-Tiergarten wohnte und möglicherweise auch schon ihre Currywurst mit Champagner zu sich nahm, habe sie sich immer ein bisschen über die vielen ziellos herumstehenden Frauen auf der Kurfürstenstraße Höhe Potsdamer gewundert. So erzählt das jedenfalls die Galeristin Pauline Seguin, die kürzlich an eben dieser Kurfürstenstraße unter dem schönen Namen "Heidi" eröffnet hat - mit direkten Blick durch Panoramaglasscheiben auf den bekanntesten (vgl. "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo"), gleichzeitig deprimierendsten Drogenstrich des Landes. Er ist heute nur noch in Resten vorhanden, aber selbst die sind eine harte Dosis Sozialrealismus aus Uringeruch, minderjährigen Zuhältern ohne Frontzähnen und zusammengefallenen Elendsprostituierten. Wo einen praktisch alles runterzieht, lässt Pauline Seguin nun zum Ausgleich heitere Papierdrachen von Joan Jonas an die Decke eines ehemaligen Möbelgeschäfts steigen.

Gallery Weekend Berlin: "Die Blüten von Berlin" ist eine Installation von Petrit Halilaj und Alvaro Urbano in der Berliner Galerie ChertLüdde, die aus vorgefundenem Dekomaterial entstand. Daneben hängen Annette Fricks Fotos mit Motiven aus der Schöneberger Transen-Szene,

"Die Blüten von Berlin" ist eine Installation von Petrit Halilaj und Alvaro Urbano in der Berliner Galerie ChertLüdde, die aus vorgefundenem Dekomaterial entstand. Daneben hängen Annette Fricks Fotos mit Motiven aus der Schöneberger Transen-Szene,

(Foto: Andrea Rossetti/ChertLüdde, Berlin)

Ein Symbol für die generelle Bewegung in der Gegend hier? Was die Mietpreise auf der Potsdamer Straße betrifft, wohl leider ja. Schon hört man, dass sich viele Berlins zuletzt entstandenen Galerien-Cluster bald nicht mehr leisten können. Und schon muss man weiter runter, dahin, wo die Potsdamer in die Hauptstraße übergeht und wo seit Menschengedenken der grandiose Kostüm-Laden "Deko-Behrendt" war. In dem überfüllten Labyrinth war ganzjährig Fasching und Halloween gleichzeitig, man fand dort selbst Gummimasken mit den Antlitz von Kim Jong-un. Dann nutzten die Betreiber die Pandemie für die Flucht in den verdienten Ruhestand, und jetzt zeigt die Galerie Chertlüdde in den ausgekehrten Räumen zumindest Reminiszenzen an die Vormieter: Petrit Halilaj und Alvaro Urbano präsentieren Dekollagen aus dem vorgefundenen Dekomaterial, und Annette Frick zeigt Fotos aus der Schöneberger Transen-Szene, die sich in den Neunzigern auch mit Vorliebe bei Deko-Behrendt ausstaffierte.

Großbürgerwohnung und Drogenstrich, ist ein krasserer Kontrast denkbar? In Berlin immer

Sprung in die Altbauwohnung am Charlottenburger Kaiserdamm, in die die Fotogalerie Kicken jetzt nach all den Jahren in Mitte umgezogen ist: Es ist die mit Sicherheit größtbürgerliche Wohnung, die man einfach mal so besuchsweise anschauen kann zurzeit, eine ehemalige Milchflaschenfabrikantenwohnung, wie man erfährt, eine dieser Berliner Endloswohnungen, für die man im Grunde ein Fahrrad braucht, und vor dem Krieg soll sie sogar doppelt so groß gewesen sein. Dort wird jetzt der strenge Siebzigerjahre-Konzeptualist Klaus Rinke wieder geehrt. Lässt sich ein krasserer Kontrast zu Seguins Ladenlokal auf dem Drogenstrich denken? In Berlin immer. Zum Beispiel die militärische Garagenlandschaft der ehemaligen Fahrbereitschaft der DDR-Regierung draußen in Lichtenberg, wo die Sammlung Haubrok ebenfalls Werke von Klaus Rinke zeigt.

So könnte man jetzt noch bis zum Ende dieses Textes quer durch die große Stadt jagen und insgesamt 52 Galerien anschauen. Das geht aber nicht, weil dringend noch dies berichtet werden muss: Insgesamt sind die Berliner Galerien erfreulich gut durch die Pandemie gekommen, dank staatlicher Hilfen, auch dank der eingesparten Messekosten, und es haben sogar neue aufgemacht wie eben "Heidi" von Pauline Seguin, die vorher bei Gavin Brown in New York war, einem deutlich unbarmherzigeren Pflaster. (Browns Galerie gibt es zum Beispiel nun nicht mehr.) Der Ruf, dass Berlin zwar viele Künstler habe, aber kaum Sammler, hat sie nicht geschreckt. Er stimmt auch schon länger nicht mehr. Und deswegen hier noch folgende Empfehlung. Die Sammlerin Manuela Alexejew hat mit Hilfe des Journalisten Thomas Kausch ein Buch geschrieben, das heißt "It's not about the Money". Es ist soeben bei Steidl erschienen und erzählt die Geschichte einer Pan-Am-Stewardess und eines Fleischwaren-Logistikers, die durch schiere Leidenschaft, Lernwilligkeit und mit einem Händchen fürs Timing und fürs Tauschen eine hinreißende Sammlung zusammengetragen haben, von der Felixmüller-Zeichnung für 175 DM bis zu Gegenwartskunst, die in ihrem Wohnzimmer über die Jahre Millionenwerten entgegengereift ist: bisschen wie die Geschichte von Hans im Glück, nur rückwärts, bis ein großer Haufen Gold im Raum steht (in diesem Fall vergoldete Kohlebriketts von Alicja Kwade.) Wer vorhat, selbst Kunst zu sammeln, kann hier was lernen. Wer wissen will, warum Udo Lindenberg mal Nenas Pudel grün gefärbt durch den Garten gejagt hat, ebenfalls. Denn ein ausgesprochen unterhaltsames Geschichtsbuch aus dem Currywurst+Champagner-Westberlin ist es nebenbei auch.

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