Süddeutsche Zeitung

Galina Ustwolskaja:Die Extremistin

Lesezeit: 3 min

Die vor 100 Jahren geborene Komponistin hat nur 25 ihrer Werke als gültig anerkannt. Jetzt ehrt München diese so grandiose wie singuläre Künstlerin.

Von Michael Stallknecht

Bei der sechsten Sonate muss Sabine Liebner zu harten Bandagen greifen, was wörtlich zu nehmen ist: Die Pianistin streift sich eine Bandage über den Ellbogen, weil die Komponistin Galina Ustwolskaja fordert, mit selbigem auf den Flügel einzuschlagen, in Lautstärkegraden bis zum fünffachen Forte. Die Musik birgt Verletzungsgefahr für die Interpretin wie für das Ohr des Hörers. Ihre Finger seien nun blau, wird Liebner beim Publikumsgespräch sagen, nachdem sie im Münchner Kulturzentrum Schwere Reiter den gut einstündigen Gesamtzyklus aller sechs Klaviersonaten gespielt hat.

Galina Ustwolskaja gehört zu den bemerkenswertesten, auch merkwürdigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 lebte sie in fast völliger Zurückgezogenheit vom Musikbetrieb in St. Petersburg, gab keine Interviews, auch Fotos existieren nur wenige. Studiert hatte sie bei Dmitri Schostakowitsch, wobei sich Lehrer wie Schülerin einig waren, dass sie ihm letztlich überlegen sei - auch in der Konsequenz, mit der sie sich im Gegensatz zu ihm Anfang der 1960er Jahre von der Ideologie der Sowjetunion abwandte. Die obligatorischen Huldigungswerke aus jüngeren Jahren tilgte sie vollständig aus ihrem Werkkatalog, so blieben nur 25 Stücke übrig.

Weil Ustwolskaja in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag hätte feiern können, waren von diesen 25 Stücken jetzt einige in München zu hören: bei zwei Konzerten, die Sabine Liebner gemeinsam mit dem Münchener Kammerorchester (MKO) gab, und bei einem Konzert der Musica Viva im Herkulessaal. Sie ließen den Weg der Komponistin nachvollziehen, ausgehend vom ersten als gültig anerkannten Werk aus dem Jahr 1946, einem Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken, bei dem Liebner noch einiges an traditionellem virtuosem Rankenwerk zufällt, während die Streicher des MKO bereits harte, schroffe Linien in den Satz bügeln. Spätestens beim Oktett für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier aus dem Jahr 1950, zu hören ebenfalls vom MKO, ist der Personalstil voll ausgeprägt: Unerbittlich knüppelt der Pauker, eher nebeneinander als miteinander scheinen die anderen Instrumentengruppen im blockhaften Satz zu schreiten.

Die Musik hat etwas von einer Prozession, die kein Ziel erreichen möchte. Der Rhythmus bleibt meistens monoton, unerbittliche Viertel sind das Grundmetrum, das Ustwolskaja ohne Taktstriche notiert.

Ebenso wie sich ihr Werk als ganzes letztlich kaum entwickelt, der Zyklus der Klaviersonaten zum Beispiel trotz einer Schaffenslücke von 30 Jahren zwischen der vierten und der fünften in sich geschlossen wirkt. Allenfalls stärkt Ustwolskaja noch die Extreme, schenkt allem Mittleren immer weniger Raum. So prallen in der Dynamik leiseste Klänge auf laute, während vermittelnde Crescendi und Decrescendi zunehmend verschwinden. In der fünften Klaviersonate fallen auch die mittleren Lagen der Tastatur weg. Sabine Liebner greift mit der rechten Hand in die höchsten, gläsern klingenden Lagen, während die linke die tiefsten Bässe dröhnen lässt. Es hat etwas von einem Totengeläut, in der sechsten Sonate scheint das gregorianische "Dies irae" anzuklingen.

Der Bezug wird noch deutlicher, wenn man dabei die "Triade" aus den 1970er Jahren noch im Ohr hat, die Musiker des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks bei der jüngsten Musica Viva spielten. "Dies irae" heißt die zweite der drei Kompositionen, in der Ustwolskaja neben acht wuchtigen Kontrabässen und dem für sie unabdingbaren Klavier einen Holzwürfel zum Einsatz bringt, der mit einem Hammer geschlagen wird. "Tief, durchdacht" lautet die Anweisung für den Spieler. Ursprünglich soll Ustwolskaja an einen Sarg als Schlagzeug gedacht haben, doch die Schläge bleiben auch so ein spiritueller Akt. Wie einige sowjetische Komponisten hatte sich Ustwolskaja bei ihrer Abwendung von der sowjetischen Staatsideologie der Religion zugewandt.

Doch wo Religion in der westlichen Musik seit der Romantik häufig als subjektive und damit gefühlsbetonte Gegenwelt auftritt, vollzieht sie sich bei Ustwolskaja im Objektiven, im archaisch Ritualhaften. Entsprechend blieb sie auch zum Westen auf Distanz, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Als sie der Verleger Hans Sikorski im Jahr 1990 um ein Werk bat, teilte ihm Ustwolskaja mit freundlichen, aber bestimmten Worten mit, dass das nicht von ihr abhänge: "Wenn Gott mir die Möglichkeit gibt, etwas zu komponieren, werde ich es unbedingt machen." Aber dafür bedürfe sie der Gnade. Dass ihr erratisches Werk bis heute eine besondere Ausstrahlung hat, ließ der Publikumszuspruch bei den Münchner Konzerten deutlich spüren.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4717398
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.