Gabriels Mittelfinger:Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer

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"Volksverräter", rufen die rechtsextremen Demonstranten. Sigmar Gabriel antwortet ihnen mit ausgstrecktem Mittelfinger. (Foto: Quelle: Facebook/Antifa Kampfausbildung e.V.)

Der ausgestreckte Mittelfinger war ein mächtiges Instrument, ein vulgäres Symbol für männliche Dominanz. Sigmar Gabriel zeigt nun, wie inhaltsleer diese Geste ist.

Von Julian Dörr

Anders als mit dem Sommerloch lässt es sich nicht erklären: Sigmar Gabriel zeigt einer Gruppe von rechtsextremen Demonstranten den Mittelfinger und das Land ist empört. Darf der Vizekanzler das? Einfach mal ein "Fuck you" in Fingerform raushauen? Während die einen den SPD-Chef für seine klare Linie feiern, kritisieren andere die Entgleisung einer Person mit Vorbildfunktion. Nun ist das Sommerloch ja die Zeit der Tiergeschichten und der Scheindiskussionen. Gabriel und sein Mittelfinger gehören in die letzte Kategorie.

In dem Video, das am Dienstag im Internet auftauchte, ist zu sehen, wie Gabriel die Anfeindungen der pöbelnden Demonstranten zunächst müde weglächelt. Dann wendet er sich ab, im Abgang hebt er die Hand zum "Stinkefinger". Das ist kein Stefan Effenberg, den der Mittelfinger die WM 1994 kostete, und schon gar kein Johnny Cash, dessen ikonische Aufnahme im Gefängnis von San Quentin in jeder dritten WG-Küche hängt. Warum also reden wir überhaupt über Sigmar Gabriel und seine Reaktion? Weil auch heute noch kaum eine Geste so viel Aufmerksamkeit generiert wie der solitär ausgestreckte Mittelfinger.

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Während einer Wahlkampfveranstaltung wird der Vizekanzler von pöbelnden Demonstranten als "Volksverräter" beschimpft. Ein Video von dem Vorfall verbreitet sich im Internet.

Aggressiv, vulgär, obszön. Der Finger, wie ihn Briten und Amerikaner knapp und deutlich nennen, ist eine Beleidigung, auch im juristischen Sinn, es drohen Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Seit der Antike ist er ein beliebtes Mittel, um seinem Gegenüber die eigene Geringschätzung zu verdeutlichen. Über die Kulturgeschichte dieser Schmähgeste hat der Romanistikprofessor Reinhard Krüger ein Buch geschrieben. Die Wirksamkeit des "Stinkefingers" erklärt er sich über die klare Signalwirkung der Geste als sexuelles Symbol. Der ausgestreckte Mittelfinger stellt den erigierten Penis dar, es geht - wie so oft - um Dominanz, um die Frage, wer den größeren hat. Ein Vergleich der Stellvertreter also, der schon bei den römischen Gladiatoren beliebt war.

Der Mittelfinger - eine Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer

Der Mittelfinger ist eine eindeutig sexualisierte Geste. Der Mittelfinger ist auch eine eindeutig männliche Geste. Sicher, Hollywood-Star Elizabeth Taylor grüßte aufdringliche Paparazzi mit ausgestrecktem Mittelfinger und auch Rapperin M.I.A. unterlegt ihre politischen Botschaften gerne mit eindeutigen Fingerspielen. Aber erlebt man außerhalb der Kunstszene wirklich viele Frauen, die sich dieser Geste bedienen? Nein, denn der "Stinkefinger" ist nicht mehr nur eine aggressive Dominanzgeste. Er ist in seiner postmodernen Variante vielmehr eine Geste der Hilflosigkeit. Eine Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer.

Wer einem anderen den Mittelfinger zeigt, der hat keine Argumente mehr. Er distanziert sich ganz ironisch von einem Konflikt, er macht sich unangreifbar und ist doch eigentlich verzweifelt. Als Gabriels Parteigenosse und damaliger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück kurz vor der Bundestagswahl den "Stinkefinger" auf dem Cover des SZ-Magazins reckte, war der Wahlkampf längst ins Stocken geraten. Gleiches gilt für den Mittelfinger von Yanis Varoufakis, den Jan Böhmermann mit seinem Fake-Fake so erfolgreich in die Mitte der gesellschaftlichen Debatte spülte: ein Symbol der verzweifelten Auflehnung gegen die politische Unmündigkeit.

Im vergangenen Sommer hat Gabriel die Flüchtlingsgegner in Heidenau als "Pack" bezeichnet, angesichts der Neonazis in Niedersachsen fällt ihm offenbar keine Steigerung mehr ein. Vielleicht hat es ihn auch an einem besonders wunden Punkt getroffen, dass einer der Männer seinen verhassten Nazi-Vater erwähnte, er entscheidet sich jedenfalls für die hilflose, inhaltsleere Geste. Denn zu dieser hat sich der einst vulgäre Männlichkeitsbeweis gewandelt. Der inflationäre Gebrauch des Mittelfingers ist ein Symptom unserer Empörungsgesellschaft, kaum ein Arbeitsweg lässt sich im innerstädtischen Straßenverkehr noch zurücklegen, ohne Begegnung mit einem Mittelfinger zu machen. Der "Stinkefinger" ist eine hilflose Geste, eine feige Geste. Wer ihn aus der Sicherheit seiner Fahrerkabine oder von der anderen Seite einer Gartenmauer zeigt, der distanziert sich, der will nicht Teil der Lösung sein, dem ist am Ende alles egal.

Der ausgestreckte Mittelfinger ist heute weniger ein wütendes "Fuck you" und mehr ein schulterzuckendes "Mir doch wurscht". Er ist eine Schein-Schmähung - und damit nicht der Rede wert. Es ist paradox, dass wir trotzdem darüber diskutieren. Womit wir wieder beim Sommerloch wären.

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