Süddeutsche Zeitung

Gabriele von Arnim "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand":Zehn Jahre überleben

Gabriele von Arnim erzählt von Krankheit und Sterben ihres Mannes und warnt, wie schlecht es einer Gesellschaft geht, in der die Menschen die Leiden anderer nicht wahrnehmen wollen.

Von Marie Schmidt

Es liegt so nahe, dass keiner darüber nachdenken will, bis es einem zustößt: Wie es ist, hilflos zu sein, ausgeliefert, auf jemandes Gnade oder Fürsorge angewiesen. "Was ist das Schicksal, was ist selbstbestimmtes Leben, hat einmal einer einen weisen Guru gefragt", schreibt Gabriele von Arnim in ihrem Buch über die lange Krankheit und das Sterben ihres Mannes: "Stell dich auf ein Bein, hat der geantwortet, und nun ziehe das andere hoch." Das ist ein Bild für etwas, das in der Hochleistungsgesellschaft ein Tabu ist: Wie leicht man sich in einer Lage wiederfindet, in der man nichts mehr tun kann, nicht einmal das Einfachste.

An den eindrucksvollen Stellen ihres autobiografischen Essays "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" beschreibt Arnim denn auch die abwehrenden Reaktionen von Freunden und Bekannten angesichts des Unglücks. Dass sie mit dem Journalisten und zeitweilig ARD-Chefredakteur Martin Schulze verheiratet war, kann man wissen, sie selbst verwendet in ihrem Buch den Namen nicht. Sie nennt ihn "er" und erzählt, wie ihr Mann zwei Schlaganfälle erleidet, den ersten am Abend des Tages, an dem sie ihm gesagt hat, dass sie nicht wird weiter mit ihm leben können. Ein sportlicher, beredter Mensch bleibt gelähmt und mit eingeschränkter Sprachfähigkeit zurück. Essen kann er erst nach einer Weile wieder, aber kaum noch selbst, von der Zeitung nur noch die Schlagzeilen lesen, weil sein Gesichtsfeld halbiert ist.

"Auch um einen Kranken zu pflegen, braucht es ein Dorf, eine Großfamilie."

Seine Frau entscheidet sich, jetzt nicht zu gehen, kümmert sich, organisiert Pflege, leidet mit, so sehr, dass sie selbst krank wird, findet Wege sich in diesem Leben einzurichten. Dass ihr materielle Stabilität dabei hilft, bedenkt die Erzählerin Gabriele von Arnim dankbar. Als sich so etwas wie ein Alltag eingestellt hat, beobachtet Arnim, wie sich ihr soziales Leben in Berlin umstrukturiert hat: "Ich bin mir sicher, schreibt einer, dass er so, wie er jetzt ist, gar nicht gesehen werden möchte von mir, sondern dass ich ihn, wie er war, in Erinnerung behalten soll. Er liebt es, besucht zu werden, antworte ich." Andere fürchten sich so vor Krankheit und Schmerzen, dass sie sie nicht einmal an einem anderen sehen wollen. Sogar Neid auf die fürsorgende Ehefrau gibt es: "Es geht dir doch gut, sagt einer, von dem ich dachte, es sei ein Freund. Alle Welt bewundert dich."

Dann wieder gibt es Leute, die kommen und geben, was sie können. Siebzehn regelmäßige Besucher kommen abwechselnd und lesen stundenlang vor: "Auch um einen Kranken zu pflegen, braucht es ein Dorf, eine Großfamilie, eine Umgebung." Man spürt auch den Stolz von Gabriele von Arnim darauf, diese Umgebung geschaffen zu haben.

Ihr Buch ist kein Leidensbericht. Sie hat es erst Jahre nach dem Tod ihres Mannes herausgebracht und schreibt darin auch über das Schreiben: Wie sie ihre Tagebüchern aus den zehn Jahren mit ihrem gefällten Mann wiederlas und versuchte, vor sich zu bringen, was sie erlebt hatte. Sie zitiert viel, verwendet weniger das leicht anfiktionalisierte Genre, das in der Gegenwartsliteratur so populär ist, sondern eher ein klassisch essayistisches, das sich an in der Kunst und Literatur Vorgefundenem anlehnt. Sie wechselt erzählend aus der Ich-Form in die dritte Person oder verwendet das Du. Alles Signale, dass es Arbeit bedeutet, dieses Schicksal sich selbst und anderen begreiflich zu machen.

Und warum muss es überhaupt sein? Es gibt berühmte Vorbilder von Büchern über Krankheit und Trauer, und Arnim nennt sie auch: Joan Didions "Das Jahr magischen Denkens" allen voran, oder Connie Palmens "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres", oder "Unzertrennlich", das Abschiedsbuch der Psychoanalytiker Irvin D. und Marilyn Yalom. Immer ist ja die Frage, als was so eine Erzählung in die Welt tritt. Als Memento, dass das Sterben zum Leben gehört, als therapeutische Gabe, als Überlebensbericht? Und was bedeutete es, die Toten darin posthum in ihrem Leiden zu literarischen Figuren zu machen?

Gabriele von Arnim spart nicht an Deutlichkeit, wenn sie den körperlichen Verfall ihres Mannes beschreibt, die Erniedrigung. "Er hat sich immer in all seiner Drangsal und Versehrtheit gezeigt", erklärt sie und das gestattet ihr vielleicht, ihn auch so zu zeigen. Vor allem aber ist "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" ein Buch darüber, was es bedeutet, in einer Umwelt zu leben, in der man Kranke nicht sehen soll, Schwäche bestenfalls gemanagt wird: "Emotionale Hilflosigkeit gebiert bekanntlich kleine oder auch größere Monster", schreibt Arnim: "Eine freie Gesellschaft lebt auch von der Empathie, der Achtsamkeit, des Achtens auf andere."

Möglicherweise war das es eine zeitliche Koinzidenz, aber durch diesen Schwerpunkt kam dieses Buch inmitten der Pandemie genau richtig. Und so hält es sich seit April stabil in der Bestsellerliste.

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