Süddeutsche Zeitung

Rumänische Literatur:Die Uhr der Kindheit

Ein Meisterwerk der europäischen Erzählkunst: Gabriela Adameșteanus großer Rumänien-Roman "Verlorener Morgen".

Von Karl-Markus Gauss

Die 1942 geborene Gabriela Adameșteanu genießt in ihrer Heimat einen doppelten Ruhm - als subtile Erzählerin, deren Romane in viele Sprachen übersetzt werden, und als kämpferische Intellektuelle, die einst vor den Kommunisten nicht zu Kreuze kroch und die Korruptionisten von heute mit ihrer Kritik nicht verschont. Ihr Roman "Verlorener Morgen", der von einem Tag in Bukarest und fast einem ganzen Jahrhundert rumänischer Geschichte erzählt, ist im Original bereits vor 35 Jahren erschienen.

Daran ist zum einen verwunderlich, dass er in der Ära Ceausescus überhaupt veröffentlicht werden konnte, zeigt er doch ein düsteres Bild des Landes; zum anderen aber, dass er erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, denn bei "Verlorener Morgen" handelt es sich zweifellos um ein Meisterwerk der europäischen Erzählkunst.

Kühn ist schon die Komposition des umfangreichen und vielstimmigen Romans. Das erste und das vierte Kapitel spielen an einem einzigen Tag in den frühen Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts; die beiden Kapitel dazwischen, die immerhin fast 300 Seiten umfassen, führen hingegen in einer Art Binnenroman in die Jahre 1914 und 1916 zurück. In der erzählten Gegenwart folgt der Roman der Stadtwanderung einer alten Frau, die sich auf dem Weg durch Bukarest befindet und sich dabei in einem unablässigen Selbstgespräch die Stationen ihres beschwerlichen Lebens vergegenwärtigt. Auf dieser Ebene des Romans wird ein proletarisches Schicksal aufgerollt, das aus dem Elend der frühen Jahre über Jahrzehnte harter Arbeit in die Armut des Alters führte.

Eine alte Frau führt auf dem Weg durch Bukarest unablässig Selbstgespräche

Der historische Binnenroman bewegt sich hingegen in großbürgerlichen Salons und akademischen Studierstuben und debattiert die Frage, auf welche Seite sich Rumänien im Weltkrieg schlagen und wohin es sich sozial, politisch, kulturell entwickeln solle. Adameșteanu erzählt also vom national-bürgerlichen Aufbruch und von der Endphase der kommunistischen Ära - freilich ohne dass sie um 1980, als sie an ihrem Roman arbeitete, bereits hätte wissen können, dass diese nur mehr ein paar Jahre dauern würde. Dabei wechselt das Tempo des Erzählens auffällig. Während die Dialoge der honorigen und wohlhabenden Bürger ruhig und ausufernd in aller Breite dargelegt werden, springt die plebejische Protagonistin atemlos von einer Assoziation zur nächsten.

Vica, im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts geboren, hatte es schwer, von Anbeginn. Die Mutter früh verstorben, der Vater im Krieg verschollen, sie selbst schon mit elf Jahren für eine "ganze Horde Geschwister" verantwortlich. Später schuftete sie für ihren Mann, der mit ihr einen vorstädtischen Laden eröffnete, in dem Lebensmittel verkauft und Schnaps und Bier gesoffen wurden. Doch "das alte Rindviech führte sich bald wie ein großer Herr auf", er schaute im Geschäft nur mehr gelegentlich zur "Inspektion" vorbei und vertrieb sich die Zeit lieber im Kino und auf dem Fußballplatz.

Jetzt liegt er, der einst "ein schöner und starker Mann war", den ganzen Tag auf dem schmutzigen Bett, sieht fern und ist so fett, dass er sich kaum mehr rühren kann. Nein, Vica hatte es wirklich nie leicht, aber wir empfinden dennoch kaum Sympathie für sie. Denn das Elend hat sie böse, nachtragend, aufbrausend gemacht. Stundenlang schimpft sie vor sich hin, bedauert sich selbst und hegt einen alles und jeden umfassenden Groll. Sie hat kein Geld, einen kranken Mann, ist armselig gekleidet, oftmals hungrig und einsam, aber: "Wenn ich Kinder gehabt hätte, verdammte Blagen, gut, dass sie keine hat, wer weiß, was dabei rausgekommen wäre, die Jugend hat keine Manieren, die schämen sich für gar nichts mehr." Fluchend verabschiedet sie sich von ihrem Mann und macht sich auf, um ihre Schwägerin zu besuchen und sich danach zur Tochter ihrer früheren Arbeitgeberin, der mondänen Madam Ioaniu, in ein ehedem vornehmes Viertel von Bukarest zu begeben. Auf der Straße und in der Straßenbahn stößt sie natürlich nur auf rohe Leute: "Die Bosheit wird immer größer, immer mehr Bauernlümmel hier und Bukarester Grobiane." Und dreckige Zigeuner, die allesamt verrecken mögen.

Bei der Schwägerin wie bei Ivona, der Tochter von Madam Ioaniu, will sie nach alter Gewohnheit ein wenig Geld einkassieren. Die Schwägerin ist es ihr wegen früher erwiesener Wohltaten schuldig, und die Bürgerstochter hat ihr im Auftrag der verstorbenen Mutter, für die Vica jahrzehntelang genäht und geschneidert hat, regelmäßig ein paar Lei zu geben. Aber wie so oft schaut sie auch diesmal durch die Finger, denn die Schwägerin ist nicht zu Hause und Ivona, die von der exzentrischen Mutter weder die Schönheit noch die Durchsetzungskraft, nur ein verfallendes Haus mit dem Tand der bürgerlichen Ära geerbt hat, ist zum Monatsende selber pleite.

Der Damenkreis trifft sich zum Pokerspiel, als das Geld fehlt, spielen sie um Bohnen

Häufig ist Gabriela Adameșteanu als rumänische Verwandte Marcel Prousts gerühmt worden, die die verlorene Zeit, die Dinge, Gefühle, Haltungen von einst mit sinnlicher Präzision zu beschwören weiß. Adameșteanu hat ihr Studium 1965 zwar mit einer Diplomarbeit über Proust abgeschlossen, aber wenn es schon der Referenz großer Erzähler bedarf, dann erinnert ihr Stadtroman eher an den "Ulysses" von James Joyce, wie Vica mit ihrem assoziativ dahinbrausenden Selbstgespräch eine Bukarester Verwandte von Molly Bloom aus Dublin sein könnte, deren innerer Monolog ein artifizielles Glanzstück im Roman von Joyce darstellt. Den Sprachrausch Vicas mitsamt seinen fehlerhaften syntaktischen Konstruktionen hat Eva Ruth Wemme einfallsreich in ein kraftvolles Deutsch übertragen.

An Proust gemahnen, wenn überhaupt, nur jene Passagen, die in der Villa von Professor Mironecu angesiedelt sind, des ersten Ehemannes von Madam Ioaniu. Wenn sich dort 1914 Gäste versammelten, ging es vornehm zu, man wechselte vom Rumänischen ins Französische, parlierte sich durch die Geschichte und drückte sich doch um die Entscheidung, ob und wie Rumänien nach dem Krieg ein moderner Staat werden könnte.

Die politischen Gespräche im zweiten, die Tagebücher des Professors im dritten Kapitel stellen Leser, die mit der rumänischen Geschichte nicht vertraut sind, vor erhebliche Schwierigkeiten. Damit man die Debatten, ob sich Rumänien mit Deutschland und Österreich-Ungarn oder mit Frankreich, England, Russland verbünden solle, in ihrer ideologischen Substanz erfassen und interpretieren kann, braucht es schon einiges an historischem Vorwissen. Interessant sind diese Abschnitte dennoch, weil sie mit dem Interieur der Villa und den Sprechweisen der Bildungsbürger in eine andere Ära der rumänischen Geschichte zurückführen; in eine kurze Ära, denn das Bürgertum hatte sich in Rumänien erst verspätet ausbilden und nur kurz behaupten können, dann wurde es in den Strudel des Faschismus gezogen und nach 1945 seiner ökonomischen Ressourcen und kulturellen Prägekraft beraubt.

Spannend wird es erneut im letzten Kapitel, wenn Vica und Ivona in der baufälligen Villa zusammensitzen und über all die einst inhaftierten, emigrierten, längst verstorbenen Mitglieder der Familie und ihres Freundeskreises sprechen. Es ist erstaunlich, wie unverhohlen Adameșteanu in einem 1983 verlegten Roman über die autoritäre Politik der Kommunisten schreiben konnte, über Verhöre und politische Schauprozesse, Enteignungen und Vertreibungen.

Einmal fällt der Blick der beiden Frauen auf die alte Pendeluhr des Salons, eine "Uhr mit blauem Emaillezifferblatt, das von goldenem Zierwerk gerahmt ist", die die Zeit aber nicht mehr richtig anzeigt und nur mehr "zum Schönaussehen" taugt. Vica würde sie sofort verkaufen, aber Ivona wird sich von der "Uhr meiner Kindheit" niemals trennen können.

Was von der kurzen bürgerlichen Ära geblieben ist, das sind ein paar Spleens und ein paar Dinge, die zu nichts nutze sind, außer dazu, den Alltag ein wenig schöner zu machen. Die legendäre Madam Ioaniu, die sich mit achtzig noch verwegen schminkte, hatte in der Zwischenkriegszeit einen Damenkreis zum Pokerspiel um sich geschart: "und als die Kommunisten kamen und ihnen ihr Hab und Gut wegnahmen und die Männer ins Loch steckten und manche starben und manche überlebten, je nach Pech, sie spielten trotzdem weiter ihren Poker. Nur dass keine mehr Geld hatte, und da spielten sie um Bohnen."

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Quelle:
SZ vom 04.02.2019
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