Süddeutsche Zeitung

Fünfte Station in Apice, Italien:Loveson

Eine Geisterstadt, die von ihren Bewohnern wegen wiederkehrender Erdbeben verlassen wurde, eignet sich hervorragend zum Abenteuerspielplatz. Und doch schmerzt die angehaltene Vergangenheit. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Eine Geisterstadt, die von ihren Bewohnern wegen wiederkehrender Erdbeben verlassen wurde, eignet sich hervorragend zum Abenteuerspielplatz. Wer hierher kommt, kann auf dem Hauptplatz Fußball spielen oder in einem Cinquecento ohne Räder unterschlüpfen. Und doch schmerzt die angehaltene Vergangenheit.

Als er den Polizisten zum ersten Mal sah, wäre er nicht auf die Idee gekommen, an eine große Liebe zu denken. Auch auf Australien wäre er nicht gekommen, und auf ein Kino mit einem Altar dort, wo eigentlich die Leinwand sein sollte, schon gar nicht.

Der Polizist war ein unscheinbarer Mann, etwas grobschlächtig, mit einem gutmütigen Gesicht, der den rechten Fuß ein wenig nachzog beim Gehen. Und eben Polizist, mit einer leuchtend blauen Uniform. Eine Uniform macht es ja eher schwer, den Menschen auszumachen, der in ihr steckt - auch wenn sie, wie diese Uniform, zu blau, zu grell und dadurch eher unvorteilhaft war.

In den meisten Fällen bewirken Uniformen das Gegenteil. Es gibt, egal ob für Frauen oder Männer, wenige Outfits, die kleidsamer sind. Die Mischung aus Autorität und gutgeschnittener Bedrohlichkeit steht den meisten gut zu Gesicht. Es ist schwer, sich dem zu entziehen, obwohl man sich ja selten wohl fühlt, wenn man es mit einem Menschen in Uniform zu tun hat.

Dieser Polizist, der ihm hier in Apice einen glänzend roten Feuerwehrhelm reichte, hieß Loveson. Apice in Kampanien in Italien - also hielt er Loveson zuerst für einen italienischen Namen wie Frederico, Umberto oder Fabrizio. Ungewöhnlich - aber italienisch ausgesprochen doch auch irgendwie plausibel.

Doch der Polizist hier hieß Loveson, weil sein Vater ihn als einen "Son of Love" in Australien gezeugt hatte. Loveson war dann mit fünfzehn Jahren nach Apice, die Heimat seines Vaters, gekommen, und hatte als Filmvorführer im lokalen Kino angeheuert.

Sie blieb

Damals war Apice noch teilweise bewohnt. Zwei schwere Erdbeben hatte es schon hinter sich gehabt, eines in den 1930er und eines in den 1960er Jahren. Beide waren heftig gewesen, beinahe Stärke sieben auf der Richterskala - und doch waren fast alle Häuser stehen geblieben.

Einige Risse hatte es schon gegeben, aber die Stadt hielt stand und wurde nicht dem Erdboden gleichgemacht. Als sich dann in den 1980er Jahren ein weiteres Erdbeben ankündigte, wurde es den Bewohnern zuviel. Sie zogen weg. Einige wollten immer noch ausharren, aber als es zu gefährlich wurde, in die Kirche zu gehen, und der Staat neue Wohnmöglichkeiten anbot, leerte sich Apice.

Die Bewohner nahmen die ihnen angebotenen Ersatzhäuser am gegenüberliegenden Hügel an und verloren so das Recht auf ihr altes Heim. Der Staat wiederum wusste nicht, was er mit der verlassenen Stadt tun sollte. Und so blieb sie, und sie blieb leer - eine Geisterstadt.

Regnum über ein totes Reich

Nur der Bürgermeister harrte aus. Er blieb, trotzig wie ein alter Kapitän, bis 2007 alleine in seiner Stadt und regierte vom obersten Stock des höchsten Wohnhauses über sein totes Reich. Im neuen Apice gegenüber fragte man sich, wo er wohl einkaufen und zum Friseur ginge, ob er alleine die Kirche aufsuchte, in der keine Messe mehr abgehalten wurde, und was er tun würde, wenn Diebe alles, was nicht niet- und nagelfest war, wegtrugen.

Er schaffte es, dass der Strom nicht abgedreht wurde, und abhanden kommende Pflastersteine durch neue ersetzt wurden - aber die Zeit nagte doch zu heftig an dieser seiner Stadt, und niemand kam zurück. Er starb einsam, und noch heute stehen die Möbel in seinem Haus, die Anzüge hängen im Schrank, und die Akten seiner Amtsführung dienen streunenden Hunden als Bett und als Klo. Diese Hunde sind heute die letzten Bewohner von Apice.

Als er mit Loveson die Geisterstadt betrat, wurde er höflich, aber bestimmt ermahnt, den Helm aufzusetzen. Die Häuser seien in schlechtem Zustand, und jederzeit könne irgendetwas von ihnen herabfallen.

So bildeten die beiden ein seltsames Paar - Loveson in seiner hellblauen Uniform, und er mit dem leuchtend roten Feuerwehrhelm. Die Hunde flüchteten jaulend mit eingezogenen Schwänzen, und dichte, schwarze Wolken zogen auf. Sie versprachen Regen.

Zuerst sprach Loveson nicht viel. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen, und man sah ihm an, dass ihn das mitnahm. Das letzte Mal musste er Obdachlose und Immigranten aussiedeln, die sich für ein paar Monate hier niedergelassen hatten. Sie wurden in eine provisorische Unterkunft verfrachtet, die mittlerweile seit bald zwanzig Jahren bestand, und Apice wurde endgültig geschlossen und mit Sperrgittern und Drahtverhauen verriegelt.

Es begann, heftig zu regnen, und er und Loveson flüchteten ins nächstbeste Haus. Es war das Haus des Arztes gewesen, und sie beide standen in einem ehemaligen Behandlungszimmer. Die altmodische Einrichtung, die verrosteten Metallkästen, ein achtlos liegengelassenes Abhörgerät und ein mit herabgefallenem Verputz bedeckter Gynäkologie-Stuhl ließen sie verstummen. Unter dem Stuhl lagen ein paar Stöckelschuhe.

Der Regen prasselte durch das kaputte Glasdach auf seinen idiotischen Feuerwehrhelm. Loveson sagte schließlich, dass er den Helm abnehmen könne, so gefährlich sei es hier auch wieder nicht. Dann regnete es auf seinen Kopf statt auf den Helm. Als ihm das Wasser in den Kragen lief und von der Nase tropfte, mussten sie beide lachen.

Sie benahmen sich dann wie schlimme Buben, die verbotene Dinge tun. Sie spielten mit einem kaputten Plastikball am Hauptplatz Fußball, blätterten in alten Magazinen, stießen verriegelte Türen auf und warteten in einem Cinquecento ohne Räder darauf, dass der Regen nachließ.

Stimmungsumschwung am Altar

Am Ende kraxelten sie durch ein Fenster der vor langer Zeit zugemauerten Kirche, bestaunten die Reste ihrer Schönheit, steckten ihre Köpfe in den Karner unter dem Kirchenschiff und gruselten sich vor den Skeletten.

Im Kino, das an die Kirche angebaut war, wurde Loveson wieder schweigsam und ernst. Er beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und schrieb seine Stimmung dem Altar zu, der in dem dunklen Raum die einzige Lichtinsel bildete - als würde der Heilige Geist ihn erstrahlen lassen. Es verlieh dem Raum die Feierlichkeit einer nie enden wollenden Messe. Denn hier in diesem Kino war die Messe gefeiert worden, als es nach dem Erdbeben in der Kirche selbst zu riskant geworden war.

Warum Kino und Kirche überhaupt so aneinander gebaut worden waren, wollte er Loveson noch fragen, aber er vergaß es, als er den Polizisten neben sich weinen sah. Stumm rollten ihm die Tränen über die Wangen.

Wie eine nicht enden wollende Gegenwart

Als sie sich verabschiedeten, erklärte Loveson ihm den Grund für seine Tränen. Oben in der Vorführkabine habe er seine Frau kennengelernt und noch am selben Abend, während der Filmvorführung, seinen Sohn gezeugt.

Aber das sei doch kein Grund zum Weinen, sagte er zu Loveson, als er ihm den Feuerwehrhelm zurückgab. Das nicht, gab Loveson zu. Aber der Rest irgendwie schon. Wenn die Zeit so bildlich angehalten wird wie in dieser Stadt, dann schmerzt die Vergangenheit, als wäre sie eine nicht enden wollende Gegenwart.

Ob Loveson ihm ein Hotel in der Nähe empfehlen könne, wollte er wissen. Der schüttelte den Kopf und antwortete abwesend: "Gab es früher nicht, gibt es jetzt nicht".

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