Süddeutsche Zeitung

Frustrierte Liberale:Wir-Gefühl statt Gejammer und Appellen

Lesezeit: 3 min

Wie geht es eigentlich den Demokraten in den USA? Mark Lilla, Professor in New York, analysiert ihr Versagen.

Von Thomas Meyer

Wer versucht, die täglichen Verrücktheiten aus dem Weißen Haus zu verstehen, der mag sich fragen, was die Opposition so treibt. Wofür stehen die Demokraten in diesen Tagen? Das ist schwer zu sagen. Und die seit sieben Monaten um das Bett des verwirrten Patienten stehenden Spezialisten scheinen nicht weniger ratlos zu sein als die Politiker. Aufmerksamkeit verbuchen im Moment vor allem jene Diagnostiker, welche die beliebte Geschichte vom Niedergang der "Demokraten" über Generationen hinweg erzählen. Damit sollen die gegenwärtigen Akteure entlastet werden, scheinen sie doch nur die Letzten am Ende einer langen Entfremdung zwischen dem "amerikanischen Volk" und den Eliten in Washington zu sein. Was soll einer schon tun, wenn es die Vorväter verbockt haben?

Niemand verkauft sich auf diesem umkämpften Feld der Ratgeberliteratur besser, als Mark Lilla, Jahrgang 1956, Professor of Humanities an der New Yorker Columbia University. Er verbindet die Geschichte vom Absturz der Liberalen und Linken mit einer scharfen Kritik an deren gegenwärtigen Diskursen. So hatte der gelernte Journalist Lilla am 18. November vergangenen Jahres in der New York Times zwei direkt miteinander verbundene Gründe für die Misere der "Demokraten" herausgestellt. Die seit gut fünfzig Jahren andauernde, in jüngster Zeit obsessive Züge annehmende Konzentration auf "Identity Politics" und die daraus resultierende Machtvergessenheit waren es, die zur freiwilligen Selbstisolierung der Identitätenverwalter führten. Zwar erkannte Lilla an, dass die um ihre Identität und damit um ihre Rechte kämpfenden Minderheiten, also Frauen, Schwarze, LBGT-Gruppen zunehmend Probleme in den USA haben. Aber die Widerstände gegen Ungleichbehandlung verlören sich im Klein-Klein von Appellen, Bürgerinitiativen, Gejammer.

Erzählt wird die Geschichte vom freiwilligen Verzicht auf Macht

Mark Lilla erinnerte stattdessen an die ruhmreichen Reden eines Franklin D. Roosevelt, mit denen der Erfinder des "New Deal" in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zu begeistern wusste, ohne den Sinn für Macht und das alles entscheidende Wir-Gefühl zu verlieren. Und weil Lilla weiß, wie Botschaften ankommen, ließ er die Leser noch an seinen eigenen Emotionen teilhaben: beim gemeinsamen Singen der Nationalhymne und beim anschließenden Hören einer Rede Roosevelts von 1941 gehe ihm und vielen demokratischen Funktionären das Herz auf.

Nun hat Lilla den Artikel zu einem Büchlein erweitert ( The Once and Future Liberal. After Identity Politics. HarperCollins , New York 2017. 160 S., ca. 21 Euro). Es bietet die Geschichte vom freiwilligen Verzicht auf Macht, der sich in der "Anti-Politik" der Achtundsechziger und der "Pseudo-Politik" der Bürgerinitiativen verkörpere. Eine Rückkehr zur wirklichen "Politik" sei nur möglich, wenn man Wahlen gewinne, die Institutionen zurückerobere und sich von allen wohlfeilen Utopien verabschiede. Erreicht werden könne das nur, wenn Klarheit über das Zustandekommen der gegenwärtigen Situation herrsche.

Zwei große "Glaubenssysteme", so der zutiefst christliche Ideenhistoriker Lilla, hätten die USA im 20. Jahrhundert geprägt: das politische der Roosevelt-Ära und das antipolitische der achtjährigen Reagan-Administration.

Dass sich das einst patriotisch geeinte Land habe auseinanderdividieren lassen, sei einer Art unkontrollierte Reaktion auf die Provokationen von Rassisten in den Sechzigerjahren zuzuschreiben - und den Selbstbefreiungsfantasien der Achtundsechziger. Beide Entwicklungen mündeten in das Hegen und Pflegen eines immer kruder werdenden Individualismus, dessen Kennzeichen seine ständige gefährdete Besonderheit war.

Die Botschaft kommt an, endlich sagt es mal einer

Bill Clintons und Barack Obamas Präsidentschaften haben in dieser Erzählung lediglich die Funktionen einer Unterbrechung der Entfremdung von der Macht und der Bevölkerung. Mehr noch: beide Präsidenten förderten durch überzogene Versprechen die Blindheit gegenüber einem klugen Realismus. Dieser kluge Realismus, für Lilla die eigentliche Botschaft der amerikanischen Geschichte, wird geprägt vom pragmatischen Umgang mit Problemen. Sie müssen in der Gemeinschaft gelöst werden. Arme und Reiche müssen dabei das Gefühl haben, gleichermaßen Anteil am Erfolg des Landes zu haben und gleiche Rechte zu genießen. Das ist es, was Lilla letztlich als seine Position reklamiert, die er neuerdings als Haltung eines "frustrierten Liberalen" beschreibt.

Man hört diese Botschaft in konservativen Redaktionsstuben sehr gerne, wie der Abdruck von Ausschnitten des Büchleins in ganz Europa belegt. Endlich spricht mal einer aus, dass die Liberalen und Linken nicht mit Macht umgehen können, lediglich Klientelpolitik betreiben und letztlich gerade die verraten, die sie zu beschützen vorgeben. Doch man soll sich nicht zu früh freuen. Sieht man einmal davon ab, dass Lilla bereits seit gut zwanzig Jahren gegen alle Forschung diese Geschichte der Selbstzerstörung der Liberalen und Linken erzählt, so mutet es noch kurioser an, dass er nie selbst die Begriffe reflektiert hat, zu deren Rettung er nun aufruft.

Man erfährt nicht, was Liberalismus in der amerikanischen Tradition letztlich heißt, es sei denn, man versteht ihn als Etikett für die Rückkehr zur Macht. Er sagt nichts darüber, wie das so sehr vermisste Wir-Gefühl wiederhergestellt werden könnte. Man erfährt auch nichts darüber, wie die objektiv bewusst vorangetriebene Spaltung der Gesellschaft überwunden werden sollte. Sein Interesse daran klingt zudem arg bemüht. Das Absingen der Nationalhymne und die Flucht ins bloß historische Bewusstsein großer Zeiten dürften zur Lösung jedenfalls nicht ausreichen.

Ausgerechnet in einem ausführlichen Interview mit dem American Conservative hat Mark Lilla seine Positionen jüngst zu präzisieren versucht ( www.theamericanconservative.com/dreher/mark-lilla-vs-identity-politics/). Was er hier als Gegner eines intellektuellen Konservatismus gewinnt, verliert er wieder durch seine Unfähigkeit zu konstruktiver Analyse. Es scheint so, als ginge es den Kritikern nicht besser als dem Weißen Haus. Jeder betreibt - mehr oder weniger - routiniert sein Geschäft. Genau das wird die Krise noch verschärfen.

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Quelle:
SZ vom 23.08.2017
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