"Frösche" von Literaturnobelpreisträger Mo Yan:Vom Quäken der toten Seelen

Literaturnobelpreisträger Mo Yan

Mo Yan bei der Frankfurter Buchmesse 2009 - im vergangenen Jahr wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

(Foto: AFP)

Seltsam, dass man diesen Nobelpreisträger für einen Staatsdichter halten konnte. "Frösche" vom Chinesen Mo Yan ist ein heiterer wie abgründiger Roman über die revolutionäre Zerstörung einer Kultur, über viel mehr als die Ein-Kind-Politik, belehrend und erschütternd zugleich.

Von Ulrich Baron

Bei Anbruch der neuen Zeit waren noch viele guter Hoffnung. Wenn die junge Ärztin Gugu auf ihrem Fahrrad über die kleine Steinbrücke preschte, dann fiel schon mal ein Hund voller Panik in den Kiaolai-Fluss. Aber die Frauen von Gaomi wussten, dass auf diese Geburtshelferin Verlass war. Wer hätte ahnen können, dass dieses lotosgleiche Mädchen mit dem roten Herzen sich in einen alten Drachen verwandeln würde, in eine Inkarnation des Höllenfürsten Yama, die schwangere Frauen zu Tode hetzte und ganze Familien ins Unglück stürzte?

Wie sein bekanntestes Werk "Das Rote Kornfeld" (1987) hat der 1955 in Gaomi geborene Mo Yan auch die im Original 2009 erschienenen "Frösche" in seiner Heimat angesiedelt. Das Leben der 1937 geborenen Tante seines Ich-Erzählers liefert einen Zeitrahmen, der japanische Besatzung, Revolution, Hungerkatastrophe und Kulturrevolution ebenso umfasst wie Chinas Wirtschaftswunder und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends.

Mo Yan bekennt im Nachwort, er habe sich von der Lebensgeschichte einer Verwandten zu diesem Buch inspirieren lassen, das sich mit der chinesischen Geburtenpolitik der letzten dreißig Jahre befasse, die als Ein-Kind-Politik bekannt geworden ist. Aber "Frösche" ist mehr als nur ein Roman über jene rigide Geburtenregelung, die von der treuen Parteisoldatin Gugu als "Chinas Geschenk an die Menschheit" gepriesen wird. Es ist ein Generationenroman über Chinas langen Marsch in die Gegenwart, über dessen Opfer und Mitläufer, zu denen auch der Erzähler zählt, der, wie sein Autor, eine kleine Karriere in der roten Armee gemacht hat, bevor er sich dem Schreiben zuwandte.

Meisterstück des Nebenhererzählens

Zu Beginn der fünf Bücher des Romans wendet Mo Yans Protagonist sich jeweils brieflich an einen japanischen Lehrmeister, der ihn ermuntert hatte, Gugus Geschichte aufzuschreiben. Eigentlich will er daraus ein Theaterstück machen. Doch am Ende haben sich die Aufzeichnungen zu einem Roman gerundet, dem das Stück als Appendix anhängt. Im Nachwort enthüllt Mo Yan, dass der Mentor ein reales Vorbild habe - Kenzaburo Oe, der seit 1994 Träger des Literaturnobelpreises ist, mit dem Mo Yan drei Jahre nach Veröffentlichung dieses Romans ausgezeichnet wurde. Vieles in "Frösche" wirkt nun so, als habe er nicht nur diese Ehrung vorausgesehenen, sondern auch den Ärger und den Vorwurf ein "Staatsdichter" zu sein, den sie ihm 2012 einbringen sollte.

Mit "Frösche" nämlich erweist der Autor Guan Moye seinem Schriftstellernamen Mo Yan ironische Reverenz. Der soll sich auf eine Anweisung seiner Mutter beziehen, die man mit "sei still!" oder "kein Wort!" übersetzen könnte, und Mo Yan zeigt, wie weise das im revolutionären China war. "Frösche" ist ein Meisterstück des Nebenhererzählens und steckt schon in frühen, noch heiter anmutenden Szenen voller Anspielungen auf revolutionäre Exzesse. Wurde in "Das Rote Kornfeld" die Häutung eines Mannes, wurde in "Die Sandelholzstrafe" eine Pfählung in grausamsten Details geschildert, so erzählt Mo Yan nun subtiler. Doch legt damit Wunden bloß, die schon vernarbt schienen.

Der chinesische Romantitel "Wa" kann sowohl das Quaken eines Frosches als auch das Quäken eines Babys wiedergeben. Und während Gugu wahre Feldzüge gegen überzählige Schwangerschaften führt, nimmt nicht nur die Zahl der Frösche rasant zu, sondern auch die der "Niwawas", tönerner "Glückskinder", die auf gespenstische Weise zu Stellvertretern jener toten Seelen mutieren, die sie auf dem Gewissen hat.

Bei Gugu schlagen die Freuden der Pflichterfüllung, schlagen humanes Engagement und der vernünftige Versuch, die drohende Bevölkerungsexplosion abzuwenden, in Wahn und Fanatismus um. Aber neben der einen Furie und ihren Opfern gibt es hier auch die Vielen, die sie gewähren lassen. "Frösche" ist ein Roman über die revolutionäre Zerstörung einer Kultur, über eine brutale, materialistische Vergröberung, die das Vertrauen zwischen den Menschen, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schüler und auch deren Lebenslinien brutal zerriss.

Aus der Kinderperspektive wird nicht nur die von Mao verursachte große Hungersnot erwähnt, sondern ganz nebenbei auch, dass damals in der Schulkantine nur der Direktor, ein Drillmeister und zwei Kommunekader beköstig worden seien - von einem Koch, der "wegen einer falschen Äußerung" seinen Posten als Leiter der amtlichen Veterinärstelle verloren habe. Die ausgehungerten Kinder fallen dagegen über eine Kohlenlieferung her: "Die schmecken prima!", verkündet Chen Nase, der Kindheitsfreund des Erzählers, angesichts von Kohlestücken, die einen Pinienduft verbreiten. Nur ein einziger Mitschüler folgt dem nicht. Er hat keinen Hunger, "weil sein Vater das Getreidelager verwaltete". Mo Yans Erzähler, der sich bescheiden "Kaulquappe" nennt, setzt zu einer Kritik aus kindlicher Froschperspektive an, doch was als Schelmengeschichte beginnt, gewinnt bald ein kritisches Niveau, auf dem auch sein Verhalten immer fragwürdiger wird.

Die Untaten alter Tanten

Zu Gugus Kummer ist das erste Baby, das sie mit ihren neuen Methoden holt, "das Balg eines Großgrundbesitzers". Zudem muss sie zunächst eine alte Wehmutter aus dem Weg räumen, die mit ihrer Quacksalberei beinahe Mutter und Kind ums Leben gebracht hätte. Wenn Gugu eine film- und propagandareife Synthese von Kung-Fu und Geburtshilfe hinlegt, dann wird überspielt, dass der Vater über seinen neugeborenen Sohn nicht nur Freudentränen vergießt: "Es gab so viel, das er nicht auszusprechen wagte, die Verehrung der Familienahnen, das täglich brennende Räucherwerk am Hausaltar, die Ahnenhalle des Clans, die Großfamilie." Auch der ehemalige Gutsbesitzer Chen ist hier ein "Mo Yan", denn "für einen wie ihn war das bloße Aussprechen ein Schwerstverbrechen".

Leider hat sein Sohn diese Weisheit nicht geerbt und als Schulkind ebenfalls eine falsche Äußerung getan: Nicht nur Chen Nase selbst hätte deshalb bitter zu leiden gehabt, "sondern mehr noch seine Eltern. Sie starben nach schwerer Folter an ihren Verletzungen und bezahlten seine kleine Gedankenlosigkeit mit dem Leben".

Auch die Bilderbuchrevolutionärin Gugu bleibt nicht verschont. Nachdem sich ihr Verlobter mit seinem Kampfjet nach Taiwan abgesetzt hat und erst recht während er Kulturrevolution bekommt sie zu spüren, wozu ihre Mitmenschen fähig sind. Das Böse gewinnt hier eine Massenbasis: "Die Massen sind erfinderisch, wenn es um das Ausschmücken und Dazuerfinden geht, sie verfügen über eine überbordende bösartige Phantasie."

Komik und Grausamkeit

Wenn Gugu die Inkarnation des Höllenfürsten ist, dann ist der Erzähler dessen Diener und Klient. Die erste Frau stirbt bei einer späten Abtreibung, zu der er sie, um seine Militärkarriere bangend, gedrängt hat. Seine zweite Frau wird als Mittfünfzigerin mit Gugu eine Schwangerschafts-Farce inszenieren, bei der eine durch einen Brand entstellte junge Frau zunächst als jungfräuliche Leihmutter missbraucht und dann um Kind und Honorar betrogen wird. Dass "Frösche" trotz alledem ein überaus unterhaltsamer, ja manchmal heiter anmutender Roman ist, führt einem die Ambivalenz positiven Denkens und die korrumpierende Kraft der Schadenfreude vor Augen. Komik und Grausamkeit, Subtiles und Derbes gehen Hand in Hand.

Als die Schwiegereltern des Erzählers ihre schwangere Tochter nicht verraten wollen, sucht Gugu sie damit zu erpressen, den Besitz ihrer Nachbarn zu verwüsten und lässt ein Stahlseil um den Stamm eines alten Baums legen. Dessen behinderter Besitzer "schleuderte den Krückstock fort und schlang beide Hände um den Baum. Er weinte: ,Ihr dürft meinen Baum nicht rausreißen. Backe sagt, der Baum liegt auf der Lebensader unserer Familie. Nur wenn es dem Baum gut geht, geht es unserer Familie gut.'" Gugu grinst und lässt den Kettentrecker mit der Arbeit beginnen. Das Seil strafft sich, die Äste des Baumes zucken und zittern. Das Seil schneidet in die Rinde, so dass Saft austritt, und als der riesige Baum in die Schräge kommt, entfahren dem Stamm "berstende, leidvolle Geräusche". Ein Stück Borke wird abgezogen, "so dass man die weißen Holzfasern sehen konnte". Dass senkt sich die Krone, und aus dem Boden brechen wie Riesenschlangen die Wurzeln hervor.

"Die guten Menschen sind Menschen, die Bösen auch"

Bis heute kann es unliebsamen Chinesen geschehen, dass man ihre Häuser "plattmacht". Doch hier wird die Entwurzelung einer ganzen Kultur in das beklemmende Bild eines geschundenen Baums gefasst. Was Revolution, was großer Hunger, was die Demütigungen der Kulturträger während der Kulturrevolution und die Zerstörung der Ahnenreihen durch die Ein-Kind-Politik nicht geschafft haben, wird hier mittels der Technik vollendet.

Gugu hat sich im Alter eine Rechtfertigung zurechtgelegt, nach der die Seelen der durch ihre Schuld ungeborenen Kinder eine zweite Chance erhielten und nun an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit zur Welt kämen, aber das sei Selbstbetrug, meint der Erzähler: "Jedes Kind ist immer einzigartig und lässt sich durch nichts und niemals ersetzen". Aber hat er selbst nicht versucht, ein abgetriebenes Kind zu ersetzen und damit ein unglückliches Mädchen noch tiefer ins Unglück gestürzt? "Die guten Menschen sind Menschen, die Bösen auch", sagt Gugu.

Doch wen interessieren im neuen China die Untaten alter Tanten? Wer es sich leisten kann, bekommt seine Wunschkinder mit einer Zweitfrau oder bezahlt eine Leihmutter. Es gibt luxuriöse Geburtskliniken und eine obskure "Froschzuchtfarm", die dem Erzähler einen späten Sohn beschert. Und die Ärmeren dürfen im neuen Niangniang-Tempel der großen Himmelsmutter Tianhou wieder um ihr Wunschkind beten. "Überall Fröschequaken ohne Ende", laute der Vers eines Song-Gedichts, der ihn seit Kindertagen verfolge, gesteht Mo Yan. Seltsam, dass man diesen Dichter für einen Staatsschriftsteller halten konnte.

Mo Yan: Frösche. Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Martina Hasse. Carl Hanser Verlag, München 2013. 509 Seiten, 24,90 Euro.

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