Friedrich Schiller zum 250. Geburtstag:Unser Kant fürs Schöne

Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller, der seine künstlerische Entwicklung so beharrlich selbstkritisch kommentiert hat wie Schiller. Sein Ziel: Die Rettung des Menschen durch Kunst.

Kristina Maidt-Zinke

Dies ist die vorerst letzte Gelegenheit, an Max Zottuk zu erinnern, eine der hübschesten Erfindungen früher Nonsenskultur. 1905 notierte Christian Morgenstern: "Seit Friedrich Schillers hundertstem Todestag habe ich diesen Dichter für mich Max Zottuk getauft; so sehr haben mir Presse und Publikum jeden Buchstaben des einst teuren Namens verleidet."

Friedrich Schiller

Schiller sah in der Kunst das Antidot gegen die Deformationen der Zivilisation.

(Foto: Foto: dpa)

Bis zum Geburtstagsjubiläum 1909 scheint sich die Verleidungsmaschine nicht wesentlich beschleunigt zu haben; die vorwiegend von Missverständnissen sich nährende "fatale Popularität" des Klassikers, die schon Adalbert Stifter beklagt hatte, war damals wohl kaum mehr zu überbieten. Nach den propagandistischen Missbrauchsdelikten der Nazis und den doppelt "nationalen" Rehabilitierungs-Klimmzügen der Gedenkjahre 1955 und 1959 hätte es dann dringend wieder eines Umtäufers bedurft. Damals jedoch war Witz vom Geiste Morgensterns hüben wie drüben Mangelware, und als im Westen würdige Nachfolger auf den Plan traten, war ihnen Goethes Sockelnachbar nicht mehr teuer, sondern ziemlich wesensfremd.

Dass er selbst einen ausgeprägten Sinn für Humor und Ironie besaß, fiel bei denen, die sich in den folgenden Jahrzehnten aus Pflicht oder aus Neigung öffentlich mit ihm befassten, meistens unter den Tisch, wie manches andere, das ihn jüngeren Generationen hätte näherbringen können. Außerhalb des Theaters, wo man an ihm einfach nicht vorbeikam, schien ein lebhaftes Interesse an seinem Werk stets der Verteidigung zu bedürfen, entweder eines Plädoyers mit ausgefeilten Argumenten oder einer Entschuldigung für ausgefallenen literarischen Geschmack. Erst Rüdiger Safranskis Biographie zum 200. Todestag durchbrach diese Konvention, weil sie sich dem Dichter und, heikler noch, dem idealistischen Denker nicht mit apologetischem Händeringen, sondern mit unbefangenem Enthusiasmus näherte.

Wenn der Kalender das nächste Mal Anlass gibt, ihn in großem Stil und im Vierjahresabstand zu würdigen, wird die meisten von uns längst der grüne Rasen decken. Ohnehin möchte wohl niemand seinen Kopf darauf verwetten, dass geistige Traditionen, die ins 18. Jahrhundert zurückreichen, dann noch öffentlich wahrgenommen werden. Deshalb ist dies der passende Moment, Max Zottuk einmal aus ganz persönlichen Motiven zu preisen. Und da im laufenden Jubeljahr, das heute seinen Höhepunkt erreicht, Presse und Publikum sich auffällig zurückgehalten haben, bringen wir es wieder leichter über uns, ihn bei seinem Klarnamen zu nennen: Friedrich Schiller.

Worum geht es? Um ein wagemutiges Versprechen und dessen überraschende Einlösung. Um Schillers Theorie des Schönen und die Schönheit seiner Theorie. Und um den Nutzen eines Kunstbegriffs, der sich dem Zweck- und Nützlichkeitsdenken der Moderne souverän entgegenstellt, für die Berufspraxis des Kritikers.

Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller, der seine künstlerische Entwicklung so beharrlich selbstkritisch kommentiert hat wie Schiller. Die anonym veröffentlichten Selbstrezensionen der "Räuber" und der "Anthologie auf das Jahr 1782", die vernichtende Beurteilung des Gedichts "An die Freude" in einem späten Brief an Körner, die Diskussion und Reflexion der jeweils aktuellen Arbeiten in der Korrespondenz mit Goethe zeugen von einer hellsichtigen, oft selbstironisch gefärbten Distanz des Autors zu seinem Werk und von der Fähigkeit, zwischen den eigenen Stärken und Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen klar zu unterscheiden. An diesen Kommentaren, aber auch an den lyrischen und dramatischen Erzeugnissen der klassischen Periode lässt sich - eine kurzweilige Prozedur - verfolgen, wie er die eigene Produktion den Maßstäben unterwarf, die er selbst entwickelt hatte.

Lesen Sie auf Seite 2, wozu der Mensch überhaupt Kunst braucht.

Zersplitterung der Gemütskräfte

Das aber besagt, dass seine ästhetische Theorie sowohl für den Schöpfer als auch für den Rezipienten eines Kunstwerks einen engen Praxisbezug hat. Es handelt sich dabei um eine Wirkungs-Ästhetik im umfassendsten Wortsinn: Das Schöne, diese zentrale Kategorie der Schillerschen Kunstanschauung, definiert sich nicht durch immanente Qualitäten oder äußere Beschaffenheit eines Gegenstands, sondern durch eine spezifische Wirkung, die er im Betrachter hervorruft.

So spekulativ Schillers Methode anmuten mag, so staunenswert fruchtbar erweist sie sich in der Anwendung auf alte, zumindest in einigen Nischen der Gesellschaft immer wieder neu begrübelte Fragen: Was ist ein Kunstwerk? Nach welchen Kriterien lässt sich sein Rang im Vergleich zu anderen Werken derselben Gattung bestimmen? Und wozu braucht der Mensch überhaupt Kunst?

Freilich muss man, um Schillers Argumentation nachvollziehen zu können, zum Kern der Sache vordringen. Den Lesern der Briefe "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" bleibt zunächst die scharfsinnige Analyse eines gesellschaftlichen Krankheitszustands im Gedächtnis, die sich so staunenswert mühelos auf heutige Verhältnisse übertragen lässt. Die Zersplitterung der menschlichen Anlagen und Gemütskräfte im "Maschinenwesen" immer unüberschaubarerer Staatsgebilde, die durch Arbeitsteilung und Spezialistentum bewirkte Entfremdung des Individuums von sich selbst und vom gesellschaftlichen Ganzen diagnostiziert Schiller einerseits als Historiker, der um die Unabwendbarkeit dieser Entwicklung weiß, und andererseits mit dem Blick des Arztes, der nach einem Therapiekonzept sucht. Seine prophetische Weitsicht kann heute ebenso verblüffen wie seine Formulierungen, die sich über zwei Jahrhunderte hinweg ihre Frische bewahrt haben.

Dass er in der Kunst das Antidot gegen die Deformationen der Zivilisation, die Exzesse einseitiger Vernunftherrschaft und die Barbarei des Zweckdenkens sah, ist bekannt, und eingeprägt hat sich auch die Zuspitzung seiner Kunstphilosophie in der kulturanthropologischen These im 15. Brief, an der seine Interpreten sich immer noch gern die Zähne ausbeißen: ". . . der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Wie aber beides zusammenhängt, was die ästhetische Erfahrung mit der Haltung des Spielenden zu tun hat und welche Rolle dem in der Schiller-Rezeption so überstrapazierten Begriff der "Freiheit" dabei zukommt, das erschließt sich nur aus dem, was im zehnten Brief als der "transzendentale Weg" bezeichnet wird und in den vier folgenden auf eine der genauesten, erhellendsten Untersuchungen bewusstseinsimmanenter Vorgänge hinausläuft, die uns in der philosophischen wie in der psychologischen Literatur überliefert sind.

Man kann das Modell der sinnlich-geistigen Doppelnatur des Menschen, das hier zugrunde liegt, in die Schublade "Kantischer Dualismus" packen; man kann aber auch versuchsweise sich der Schillerschen Behauptung im ersten Brief anschließen, die da lautet: "Über diejenigen Ideen, welche in dem praktischen Teil des Kantischen Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweit, aber die Menschen, ich getraue mir es zu beweisen, von jeher einig gewesen." Sodann kann man, aus reiner Experimentierlust, dem anthropologischen Entwurf folgen, der aus jener Doppelnatur zwei widerstreitende Tendenzen ableitet, zwei innere Nötigungen, zwischen denen der Mensch im Alltag unablässig hin- und hergerissen ist, deren eine auf grenzenlose Autonomie und Beständigkeit seines inneren Selbst gerichtet ist, während die andere auf möglichst vielfältige Berührung mit der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit dringt.

Des weiteren kann man überprüfen, ob es einen Zustand gibt, in dem diese beiden Antriebe, die Schiller "Formtrieb" und "Stofftrieb" nennt, sich im Gleichgewicht befinden und dadurch einander aufheben, so dass für einen kostbaren Moment ein Gefühl vollkommener innerer Freiheit und Losgelöstheit entsteht, in der das Leben als Spiel erscheint, ohne dabei seinen Ernst zu verlieren. Und wenn man dann entdeckt, dass diese Erfahrung schwebender Balance sich im Angesicht eines Kunstwerks gleich welcher Gattung tatsächlich einstellen kann, dann ist man für den Rest seines Lebens geneigt, an Schillers Postulat eines "ästhetischen Zustands" zu glauben und alle künstlerischen Produkte, die man zu goutieren oder zu beurteilen hat, daran zu messen, ob sie wenigstens einen Hauch von dieser Wirkung zu erzeugen vermögen.

Was wiederum die Arbeit und das Leben so bereichert, dass der Verlust der menschlichen "Totalität", der seit der Aufklärung beklagt wird, sich nicht mehr gar so schmerzlich bemerkbar macht: Man spielt nur noch, aber auf hohem Niveau. Und so erfüllt sich das Versprechen, das Schiller einst dem Herzog von Augustenburg gab - dass nämlich der paradoxe Satz vom spielenden Menschen "das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst" tragen werde. Danke, Max Zottuk.

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