Friedrich Hölderlin:Wider das weltanschauliche Gegrapsche

Friedrich Hölderlin: Friedrich Hölderlin.

Friedrich Hölderlin.

(Foto: Manfred Grohe)

Karl-Heinz Otts Streifzüge über "Hölderlins Geister".

Von Helmut Böttiger

Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott gehört dem literarisch viel umraunten schwäbisch-alemannischen Sprachraum an, der Ort seiner Herkunft bildet mit Messkirch und Tübingen eine Art gleichschenkliges Dreieck. Und in seinem essayistischen, zwischen dem aufklärerischen Duktus des 18. Jahrhunderts und der wissenschaftlich unterfütterten Ironie des 21. changierenden neuen Buch spielen Heidegger und Hölderlin denn auch die Hauptrollen. "Hölderlins Geister" - das sind für Ott die Geister, die dieser geheimnisvolle Dichter rief und die die Kultur- und Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts dann nicht mehr losgeworden ist. Hölderlin wird hier ausführlich in dem dargestellt, was seine Wirkung ausmachte: Das Spektakuläre ist seine Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert.

Ott erzählt und referiert assoziativ, in kleinen Miszellen und Episteln. Sie scheinen den Geist des Tübinger Stifts zu reproduzieren, in dem Hölderlin, Hegel und Schelling die Klassiker studierten und dazwischen auch aufwühlende Nachrichten von der Französischen Revolution wahrnahmen. Die drei schrieben in dieser Phase der Gärung einen Text, der später als das "älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" entdeckt wurde.

Und während Hegel und Schelling sich relativ schnell von diesem Ausgangspunkt entfernten und ihre bürgerlich-akademischen Karrieren machten, blieb Hölderlin seinen Ursprüngen treu. Immer bedrängender wurden seine Anrufungen einer "neuen Mythologie", die das Bedürfnis nach einer umfassenden allgemeinen Sinnstiftung endlich stillen könnte. Die Aufklärung warf, so das Empfinden des Dichters, die Menschen auf sich selbst zurück, vor allem aber hatte das Christentum die griechische Mythologie abgelöst, in der es noch keinen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft gegeben habe. Durch die Dichtung sollte für Hölderlin der Geist der alten Griechen wieder lebendig werden und das prosaische, entfremdete Dasein auf Erden beenden.

Die Dichtung kann durch solche Zuweisungen eine ungeheure zeitgeschichtliche Dynamik entfalten. Das Besondere an diesem schwierigen, rhythmisch und formal irritierend avancierten Dichter ist, dass er von entgegengesetzten weltanschaulichen Richtungen vereinnahmt werden konnte. Gerade weil Hölderlin am Beginn der Trennung zwischen E- und U-Kultur steht, weil er eine Verselbständigung des literarischen Sprechens betrieb, hatte er eine enorme politische Wirkung. Sein hoher Ton, sein Pathos von Erlösung und Verschmelzung erwiesen sich als besonders anschlussfähig für totalitäre Fantasien. Deutschnationale und Hitleristen sahen in Hölderlins heldischer Vorstellung des "Vaterlands" eine Steilvorlage, Kommunisten und linke Revolutionäre knüpften an Hölderlins Visionen von Gleichheit und Brüderlichkeit an.

Bereits der deutschnationale erste Herausgeber hatte in den Deutschen das "Volk Hölderlins" gesehen

Vor allem für den deutschen Meisterphilosophen Martin Heidegger kam Hölderlin gerade recht. Die Dichtung konnte leisten, wozu die reale Politik nicht in der Lage war: die "erd- und bluthaften Kräfte", von denen Heidegger in seiner den Nationalsozialismus feiernden Rektoratsrede gesprochen hatte, sah er von Hölderlin beglaubigt. Ott zeichnet genau nach, wie Heidegger der "techno-logischen Hölle" der Gegenwart entkommen wollte: Es galt, die noch nicht von Intellektualität und Ratio angekränkelten alten Griechen wieder ins Recht zu setzen. Neben den antiken Heroen besäßen nur die Deutschen Tiefe. Erde, Heimat und Sein könnten der modernen Bodenlosigkeit und dem Kosmopolitismus (vertreten vor allem von den Juden) entgegenstehen, und mit dieser Vision erkannte er in Hölderlin einen Vorgänger. Bereits der deutschnationale erste Herausgeber einer Hölderlin-Gesamtausgabe Norbert von Hellingrath hatte in der Zeit des Ersten Weltkriegs in den Deutschen das "Volk Hölderlins" gesehen und die Berufung auf Goethe "klein-Leute-haft" gefunden. Dass die deutschen Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkriegs dann Hölderlin im Tornister trugen, war die Konsequenz daraus.

Wenige Jahrzehnte später war Hölderlin plötzlich links. Als eine Initialzündung erwies sich das "Hölderlin"-Stück von Peter Weiss. Und in einem hübschen Tübinger Genrebild beschreibt Ott, wie einige Bekannte nach Margarethe von Trottas Film "Die bleierne Zeit" (ein Hölderlin-Titel ) betroffen in einer Pizzeria saßen. Hölderlins Wahnsinn war für Michel Foucault eine angemessene Antwort auf die Vernunftmaschinen der kapitalistischen Zivilisation, und Philippe Lacoue-Labarthe meinte, dass Hölderlin in seiner Zerrissenheit und seinen ästhetischen Bruchstücken moderner als die Moderne war und die Avantgarde geradezu erfunden hatte.

Wie nebenbei entfaltet Ott in seiner ebenfalls fragmentarischen, doch äußerst luziden Bricolage-Technik eine kleine Geschichte der Denkmoden der letzten Jahrzehnte - voller Ironie, aber mit souveräner Gelehrsamkeit. Ein Kabinettstückchen ist die Passage, in der der abrupte Wechsel von der Dialektik zum Diskurs karikiert wird und "linguistische Geheimdienste" auftauchen. Im Lauf des Buches zeigt sich, dass Karl-Heinz Ott seinem schwäbisch-alemannischen Landsmann nicht huldigt, sondern ihn gelassen "dekonstruiert", wie er wohl belustigt zugeben würde. Ott steht durchaus auf der Seite Hegels, der allzu illustre Träume von einer guten Welt inmitten eines absolut herrschenden Bösen als "unglückliches Bewusstsein" analysierte. Hölderlins Griechenland, in dem sogar der rauschhafte und exzessive Dionysos als Gott allumfassender Harmonie erscheint und Diotima so veredelt wird, dass sie mit einer leibhaftigen Frau nichts mehr zu tun hat, wirkt wie eine kindliche Fantasie.

"Wo bleibt Odysseus?", fragt Ott und erwähnt, dass Hölderlin dessen Ironie und Listen bloß als wertloses Geklimper empfand. Und mit einer beiläufigen Nonchalance, keineswegs auftrumpfend, zitiert der Autor Jean Laplanches Studie, in der Hölderlins Neigung zur pantheistischen Verschmelzung aus dem fehlenden Schutz eines Vaters heraus interpretiert wird. Zudem scheint Hermann Argelanders Buch über die Sehnsucht nach "ozeanischen Gefühlen" und den Sozialisationstypus des Narziss wie auf Hölderlin zugeschrieben worden zu sein.

Dass Hölderlin sich für "weltanschauliches Gegrapsche" auffallend besser eignet als die meisten anderen deutschen Dichter, bildet den Dreh- und Angelpunkt für Otts lustvoll intellektuelle Streifzüge. Man sollte, so sein Plädoyer, sich auf Hölderlins Sprachmusik konzentrieren und seine geschichtsmythischen Visionen als das lesen, was sie einzig und allein sind: eine poetische Antriebskraft. Und wenn Hölderlins späte Hymnen allen Ballast abzuwerfen scheinen, ist das vielleicht sein wichtigstes Vermächtnis: "Immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht."

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister. Carl Hanser Verlag, München 2019. 240 Seiten, 22 Euro.

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